Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung oder der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der sogenannten „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Kommen wir heute zu einem Beweis dafür, dass manche Kompositionen ohne ihre Bezugsquellen nicht funktionieren. Richard Wagner, seit jeher als König der Opernwelt glorifiziert, dürfte wie kein anderer die Epoche der Hochromantik geprägt haben. Legendär sind seine Opern Der Ring des Nibelungen, Tristan und Isolde, Der fliegende Holländer, Lohengrin… die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Reine Instrumentalwerke sind hingegen nur wenige überliefert – eines davon ist das Siegfriedidyll.
Das nach seinem Sohn benannte und seiner Frau Cosima gewidmete Werk entstand 1870 als Überraschung an die eigene Familie. Ferner lassen sich Bezüge zu Wagners drittem Teil des Nibelungenrings herstellen, an dem Wagner zur selben Zeit arbeitete. Der Gedanke war, ein intimes Kleinod zu hinterlassen, das an die Geburt seines ersten Sohnes Siegfried erinnern sollte.
Dieser familiäre Hintergrund wurde auch lange Zeit als Grund dafür angenommen, dass Cosima Wagner sich weigerte, das Werk der breiten Öffentlichkeit zuzugestehen. Ob der guten Frau damals schon bewusst war, dass dies nicht die stärkste Komposition ihres Mannes war? Vielleicht ist sie aber auch nur die einzige, der sich diese persönlich gewidmete Komposition komplett erschließen konnte?
Fest steht: Die große Stärke Wagners war es, über einen an Monstrosität grenzenden Aufbau innermusikalische Strukturen bis an die Grenzen des Möglichen auszureizen und sie dadurch zur Vollkommenheit zu vollenden. Nicht umsonst gilt er als der Erfinder der Leitmotiv-Technik – seine Musik ist so reich, dass es stets wiederkehrende Motive braucht, um über so viele Stunden nicht den roten Faden zu verlieren. Dass er dadurch eine beispiellose Dramatik entfalten kann, liegt auf der Hand.
Das Problem dieses Personalstils ist, dass es nicht nur entsprechend viel Zeit zur Entfaltung, sondern auch einer gigantomanischen Struktur bedarf. Wer würde sich wohl einen Tristan auf 20 Minuten zusammengestampft anhören und danach noch sagen können, was die Essenz des künstlerischen Gedankens war? Nein – manche Komponisten müssen sich über zwei Stunden oder länger ausbreiten, damit ihre Musik verständlich wird.
Genau dieses Problem liegt leider dem Siegfriedidyll zugrunde. Wagner gelingt es, verschiedene Grundgedanken zu präsentieren und diese auch miteinander zu verweben. Effektiv wird ein Hauptthema zumeist sehr seicht durch die Instrumentenklassen variiert, wobei es zu unterschiedlichen Auflösungen findet. Ganz typisch für Wagner findet auch hier eine tonale Ausbreitung der Themen statt, die dazu geeignet wäre, jeden Zuhörer in eine eigene Welt einzusaugen – nur ist da das Stück dann auch schon zu Ende.
Die Ursache liegt vielleicht in Wagners Kompositionsstil, der sich wohlwollend als tiefsinnig, böswillig als träge bezeichnen ließe. Wagners Werke sind im Allgemeinen nicht für ihre rasende Geschwindigkeit bekannt, sondern für die ihnen innewohnende Inbrunst und Ausdrucksstärke. Diese Musik will einen aufsaugen, festhalten und betören – nicht in Hektik und Panik versetzen. Ein presto furioso würde man entsprechend eher bei anderen Komponisten verorten.
In der Konsequenz entsteht beim Siegfriedidyll stellenweit der Charakter wohlgefälliger, gemächlicher Begleitmusik. Befremdlich, immerhin behauptete Wagner Zeit seines Lebens, dies wäre die einzige Komposition, zu der er ein Programm vorlegen könne. Dass dieses bis heute nicht aufgetaucht ist, stellt einen Mangel dar. Der musikalische Gehalt reduziert sich damit entsprechend auf die Bezüge zu anderen Werken. Wer aber nicht die komplette Siegfried-Oper kennt, aus der einige der Melodien entnommen wurden, bleibt unbefriedigt, wahrscheinlich sogar gelangweilt zurück. Für Klassik-Einsteiger jedenfalls kein geeignetes Werk.
Darüber hinaus bietet das Siegfriedidyll für 20 Minuten Musik etwas wenig Substanz. Andere Komponisten schaffen denselben Eindruck (oder mehr) in gerade einmal 2 Minuten. Ja, es gibt nach gut 10 Minuten zwar den Versuch eines dramatischen Ausbruchs. Doch leider ist dieser schon zu Ende, bevor es wirklich zu einer Klimax kommt.
Nun ließe sich argumentieren, dass Wagner dieses Werk ohnehin für eine Kammerbesetzung konzipiert hatte – die Musikergruppe musste zur Uraufführung schließlich auf die Treppe des eigenen Hauses passen. Nur so erklärt sich das Fehlen ansonsten für ihn selbstverständlicher Instrumente wie der Tuba und den Posaunen, der Harfe, dem Schlagzeug, der Doppelbesetzung von Holzbläsern oder die spärliche Verwendung der Trompete. Und ja, die Begrenzung der Mittel hat auch unweigerlich eine für Wagner unübliche Begrenzung der Ausdrucksmöglichkeiten zur Folge.
In der Konsequenz ergibt sich aber eine Verweichlichung des Gehalts und damit schließlich eine Unschärfe, die zur Spekulation einlädt. Wollte Wagner mit dieser Musik vielleicht seine Sicht über seine Frau Cosima zum Ausdruck bringen? Das wäre befremdlich – immerhin war sie kein zartes Mauerblümchen, sondern eine gestandene Frau. Ihr ist es mitunter zu verdanken, dass die Bayreuther Festspiele auch heute noch eine kulturelle Instanz sind.
Oder ging es ihm darum, die Idylle des Familienlebens darzustellen? Dies wäre kaum Substanz und einer so langen Komposition nicht würdig. Dazu ist es als Ausdruck von Ruhe und Frieden stellenweise wieder zu ambitioniert. Es ließe sich auch spekulieren, ob Wagner vielleicht die Freude über die Geburt des Sohnes ausdrücken wollte. Hierfür allerdings ist die Komposition wieder zu langsam und verhalten. Insgesamt bleibt dies damit ein Werk, dessen Erfahrungswert überschaubar bleibt, weil er zu spezifisch und persönlich ist. Es mag seinen Wert für die Familie Wagner erfüllt haben. Für den Konzertbesucher ist es aber eher ein leichtes Häppchen. 20 Minuten Musik lassen sich jedenfalls eindrucksvoller füllen.
Daniel Janz, 19. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 3: Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 7 „Lied(er) der Nacht“ (1908)
Meine Lieblingsoper (65): „Das Rheingold“ von Richard Wagner
Stefan Mickisch, Richard Wagner, Lohengrin, Wiener Konzerthaus
Ich find’s ganz nett, Wagner mal als Hobbykomponisten zu erleben. Schlimmer als die Rienzi-Ouvertüre finde ich das Siegfriedidyll jedenfalls nicht. Und manchmal bin ich sogar in Stimmung, sowas anzuhören.
Lorenz Kerscher
Ich liebe das Siegfriedidyll,
lieber Lorenz Kerscher,
es ist so intim und zärtlich – und wenn man sich die Entstehungsgeschichte
vor Augen führt, ist es überwältigend…
Aber der Blick, mit dem Daniel Janz uns auf diese Werke blicken lässt, ist wirklich sehr inspirierend.
Herzlich
Andreas Schmidt
Zu mir kommt Wagners private Leichtigkeit in diesem Stück sehr sympathisch rüber! In seinen großen Werken findet man solche unbeschwerten Stimmungen eher selten, vielleicht noch im Rheintöchterreigen oder im Karfreitagszauber. Wobei das dort große Bedeutung im Gesamtzusammenhang hat.
Herzliche Grüße, Lorenz
Wie bei Deinen anderen Artikeln auch habe ich mir zu Referenzzwecken das Stück in voller Länge angehört.
Das waren sehr lange dreiundzwanzigeinhalb Minuten …
Guido Schäfer
Interessant, wie unterschiedlich Musik empfunden werden kann. Ich liebe an diesem Werk gerade seine Unbekümmertheit, die Leichtigkeit – also die Schwerelosigkeit, die es vermittelt! Bevorzugt jedoch am Klavier. Obwohl ich die Orchesterversion auch schätze, „stehe“ ich voll auf Glenn Goulds Transkription fürs Klavier. Unbedingt anhören…
Jürgen Pathy
Eins sollte man dabei aber mal überlegen: Vielleicht hat Wagner durch die Aufführung im Treppenhaus so nebenbei den Orchestergraben des Festspielhauses „erfunden“!
Schließlich stehen die Musiker im Treppenhaus so wie sie später saßen….
Michi Graf Kessler
Leider nein. Es ist wie so oft: mMn muss es nur laut genug herausposaunen, dann werden es schon alle glauben… Wie so viele musikalische Ideen ist auch der abgedeckte Orchestergraben von Wagner schamlos geklaut, nämlich aus Riga, wo er ja Kapellmeister war.. Dort gibt es eine Art Deckel über dem Orchester, der Rest ist Geschichte….
Florian Hoheisel
„Talent stiehlt, Genie raubt“, fällt mir dazu nur ein – ein Zitat, das von Stefan Soltész stammt. Im Zuge der Hugenotten-Produktion 2019 an der Semperoper Dresden hat er ein Interview gegeben (ist auf youtube zu finden). Dort sagte er explizit: „Viele Komponisten, die ein Talent waren, haben gestohlen von Meyerbeer – aber Wagner hat ihn wirklich ausgeraubt.“
Habe mir erlaubt, dazu eine kleine Grafik zu erstellen – weil’s Spaß macht: https://www.facebook.com/klassikpunk.de/posts/2838528176463907
Jürgen Pathy