Quelle: [File:Paul Hindemith 1923.jpg|thumb|Paul Hindemith 1923]
Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
„Warum komponieren Sie denn so? Bei Ihrem Talent könnten Sie doch auch ganz anders“ – so soll Richard Strauss einmal Paul Hindemith gefragt haben. Der eine, Reichsmusikdirektor und von den Nazis glorifizierte Figur, dessen Rolle im Nationalsozialismus bis heute nicht restlos aufgeklärt ist. Der andere in Deutschland lange geächtet, schließlich sogar unter dem Label „entarteter Musik“ diskreditiert. Gänzlich verschiedene Rufe, die bis heute nachhallen. Beide hinterließen Juwelen der Konzertgeschichte. Aber während Strauss nach wie vor (zurecht) oft gespielt wird, ist Hindemith nahezu vergessen. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag einmal eine jener Kompositionen vorstellen, die ihn eigentlich ebenfalls in den Olymp der „großen Komponisten“ erheben: Die „Sinfonie von der Harmonie der Welt“.
Dabei ist Hindemiths „Sinfonie von der Harmonie der Welt“ ein Sonderfall. Denn ursprünglich soll er gar keine Sinfonie unter diesen Titel vorgesehen haben. Stattdessen war sein Plan, eine epische Oper – ganz im Stile Wagner’scher und Strauss’scher Heldensagen – über Johannes Kepler zu schreiben. Erste Skizzen zur Oper schrieb er bereits 1939 – kurz vor dem Angriff Nazideutschlands auf Polen. Was dann geschah, ist ungeklärt. Erst 1957 wurde die Oper endlich fertig gestellt und uraufgeführt. Und das, obwohl das Interesse an ihr nie abgerissen war.
Auch deshalb entstand 1951 die gleichnamige Sinfonie: Ein Auftraggeber bat Hindemith, quasi als Vorgeschmack auf die immer noch in Entstehung befindliche Oper, eine Sinfonie aus Themen derselben zu komponieren. Es ist ein bemerkenswert skurriler Umstand, dass Hindemith daraufhin nicht einmal einen Monat gebraucht haben soll, um die komplette Sinfonie zu liefern. Und was für ein Werk er da schuf – eine spannungsgeladene, atemberaubende Komposition voller Sinnlichkeit und Eindrucksvielfalt. Prompt kürten auch die Zeitzeugen Furtwängler und Sacher diese Sinfonie zur besten Sinfonie, die Hindemith überhaupt je geschrieben haben sollte.
Faszinierend daran ist, wie sich Oper und Sinfonie gegenseitig dermaßen ergänzen, dass sie beide dadurch eine inhaltliche Aufwertung erfahren. Denn das verwendete Material ist nahezu identisch. Ein Beweis dafür, dass Hindemith 1951 die Oper auch schon in großen Zügen entweder fertig konzipiert oder sogar schon geschrieben haben musste. In anderen Worten: Eigentlich ist diese Sinfonie eine kondensierte Form der Oper selbst.
Und doch legt die Sinfonie durch die Form als Sinfonie einen Fokus, der der Musik selbst und nicht den Figuren der Oper gilt. Somit werden ihre drei Sätze selbst zu Sinneinheiten, die Hindemith konsequent mit Titeln im direkten Bezug zur antiken Theorie der Sphärenharmonie versah:
Satz 1: Musica instrumentalis
Satz 2: Musica humana
Satz 3: Musica mundana
Entsprechend der Titel unterteilt diese Theorie die Musik in 3 Arten: Erstens die instrumentale Musik oder Musik der Welt „musica instrumentalis“. Zweitens die Musik des Menschen als Ausdruck von Leidenschaft und Sehnsucht der Seele „musica humana“. Und drittens die Weltenmusik oder Musik des Himmels als Ausdruck vollkommener Harmonie des Kosmos, die „musica mundana“. Inspiriert von den alten Griechen galt diese durch die von ihr gegebene Ordnung als von Gott geschaffenes mathematisches Abbild des Kosmos’ in der Natur und damit auch als Grundlage aller Musik. Alle Töne selbst sollten den Schwingungen, die die Planeten auf ihren Bahnen um die Erde aussandten, entstammen.
1619 schrieb dann Johannes Kepler, Entdecker der bis heute gültigen Kepler’schen Gesetze, sein eigenes Lehrbuch dazu. Sein Modell vom harmonisch geordneten Kosmos war revolutionär – und ketzerisch, stellte er doch nicht die Erde, sondern die Sonne ins Zentrum der Planetenbahnen. Er war es auch, der das Entstehen der Töne nicht mehr auf die physischen Schwingungen der Planeten zurückführte, sondern davon ausging, dass sie lediglich zu den Planetenbahnen identische Zahlenverhältnisse darstellten.
Das alles gilt es zu beachten, wenn man diese Sinfonie hört. Denn dann erklärt sich auch der grundsätzlich unterschiedliche Charakter ihrer drei Sätze. Der erste beispielsweise kennt zum Grundton E nur ein Hauptthema aus 12 Tönen, das 12 mal wiederholt wird. Durch sein Wandern in den Instrumentengruppen wird es ferner mit einer Zahlensymbolik (4 + 5 + 3) versehen, die für sich genommen die Grundlagen harmonischer Theorie spiegelt. Dazu ist der Aufbau des Themas zahlensymbolisch so sehr angereichert (Doppelton als Symbol für Sonne und Erde, die umeinander kreisen, 6 Quartfällen für die anderen Planeten auf ihren Bahnen und einer aufsteigenden Triole am Ende als Zeichen göttlicher Vollkommenheit), dass eine komplette Erörterung den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.
Ins Ohr fällt der rasende und episodenhafte Charakter dieses zunächst aufwühlenden, dann zart beseelten und dann wieder stampfenden Satzes. Ganz im Sinne einer Welt-Musik voller Abwechslung und Drang, mitunter auch mit Chaos in Verbindung gebracht. Ein Satz, der sowohl das Potenzial hat zu ergreifen, als auch zu verstören, aber ideal die Verbindung harmonischer Ansätze mit dem ständigen Treiben der Welt illustriert. Ein Spagat, der gelingt, weil das Hauptthema den Anfang und das Ende des Satzes markiert und ihm dadurch einen prägenden roten Faden verleiht.
Elegisch geht es im zweiten Satz zu. Im wahrsten Sinne des Wortes; die „Musik des Menschen“ baute Hindemith aus zwei Elegien auf. Die erste von ihnen vibriert nahezu durchgängig in den Streichern, während die Bläser dazu einen Trauermarschrhythmus aufrechterhalten. Die zweite sticht als Thema immer wieder solistisch hervor und verzaubert vor allem in seinen kammermusikalischen Umsetzungen. Ein wahrhaft vor Sehnsucht und Wehmut strotzendes Kleinod, das aber nicht um Ausbrüche verlegen ist.
Höhepunkt dieser Sinfonie ist jedoch der Finalsatz. Im Sinne kosmischer Harmonie erscheint dieser am geordnetsten. Er kennt nur ein Thema, dieses aber so prägend, dass es erst als Fuge, später als Passacaglia erklingt. Ganze 4 Durchführungen erlebt es – damit ist es auch nicht vermessen, hier ein Streben zur Verklärung absoluter Harmonie hineinzuinterpretieren. Gegen Ende hin geht Hindemith sogar in die Vollen und spendiert ein mitreißend hymnisches Finale, Glocken- und Tamtamschläge inklusive. Es verwundert nicht, dass er später diesen Satz 1 zu 1 in seiner Oper als Finale einsetzt, wo er Kepler nach dessen Tod das Ausmaß Himmlischer Harmonie erkennen und seinen Platz im Kosmos anstelle der Erde einnehmen lässt.
Sinfonie und Oper sind damit Sinnbild dafür, dass wir alle letztendlich unseren Platz finden, wenn wir an unseren Zielen festhalten. Darüber hinaus ist dies der Beweis dafür, dass Hindemith, der sonst mitunter durch satirische oder experimentelle Musik auffiel, doch ein wahrer Meister seines Fachs war. Zeit also, auch auf ihn zurückzugreifen. Diese Sinfonie wäre jedenfalls in jedem Orchesterspielplan eine willkommene Abwechslung!
Daniel Janz, 15. Januar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker, Komponist, Stipendiat, studiert Musikwissenschaft im Master:
Orchestermusik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich zunächst für ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zur Verbindung von Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für klassik-begeistert. 2020 erregte er zusätzliches Aufsehen durch seine Kolumne „Daniels Anti-Klassiker“. Mit Fokus auf den Raum Köln/Düsseldorf kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend geht er der Frage nach, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Alle zwei Wochen: „Daniels vergessene Klassiker“
Daniels vergessene Klassiker Nr 11: César Franck klassik-begeistert.de, 1. Januar 2023
Daniels vergessene Klassiker Nr 10: Lili Boulanger – D’un soir triste