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Kritisieren kann jeder! Aber die Gretchenfrage ist immer die nach Verbesserung. In seiner Anti-Klassiker-Serie hat Daniel Janz bereits 50 Negativ-Beispiele genannt und Klassiker auseinandergenommen, die in aller Munde sind. Doch außer diesen Werken gibt es auch jene, die kaum gespielt werden. Werke, die einst für Aufsehen sorgten und heute unterrepräsentiert oder sogar vergessen sind. Meistens von Komponisten, die Zeit ihres Lebens im Schatten anderer standen. Freuen Sie sich auf Orchesterstücke, die trotz herausragender Eigenschaften zu wenig Beachtung finden.
von Daniel Janz
Krieg – Schrecken, Grauen und Tod. Das sind jedenfalls die Assoziationen, die bei diesem Begriff aktiv werden. Zu oft wird vergessen, dass im Krieg auch Menschen existieren und überleben müssen. Menschen mit Nöten, Wünschen und Hoffnungen an ein Ende all des Schreckens. Diese Hoffnung auf etwas Besseres nicht aus den Augen zu verlieren und immer wieder hochzuhalten stellt sich gerade in solchen Zeiten als regelrechter Kampf eines jeden Individuums heraus. Deshalb soll in diesem Beitrag einmal ein Werk betrachtet werden, das eben genau jenen Spagat versucht: Den Ausdruck von Frieden und Hoffnung inmitten von Krieg und Tod. Die Rede ist von „Le Grand Cahier“ von Alexander Litvinovsky.
Dabei lautet die erste Frage: Wer ist eigentlich Alexander Litvinovsky? Obwohl er nach wie vor rege komponiert, ist in deutschen Medien fast nichts über ihn bekannt. Selbst international lässt sich kaum etwas zu ihm finden. Er gleicht einem Mysterium, was sicher auch damit zusammenhängt, dass sein Geburtsland Weißrussland – die letzte „Diktatur“ Europas – heute selbst aktiv in den größten Kriegskonflikt der letzten Jahrzehnte verwickelt ist. Immerhin klärt EverybodyWiki.com darüber auf, dass der 1962 in Minsk Geborene „zeitgenössische Komponist“ sich der „Rekonstruktion historischer Musikmodelle von Renaissance, Barock, Klassik und Romantik“ widmet, aber auch der Avantgarde gegenüber offen ist.
Dabei ist er kein nationaler Propagandakomponist. Zunächst noch ab den 90er Jahren als Mitglied der Belarussischen Komponistenvereinigung wurde er 2004 Mitglied in der American Society of Composers und 2005 in der Internationalen Konföderation Elektroakustischer Musik. Auch über zahlreiche Residenzbesuche und Diplome klärt seine Vita auf.
Dazu schreckt er in seiner Musik auch nicht vor schweren Themen zurück. So beispielsweise auch mit seinem Titel „Le Grand Cahier“, den er 2015 zunächst als Bühnenmusik konzipierte, basierend auf dem gleichnamigen Roman (der im Deutschen unter dem Titel „Das große Heft“ erschien) von Ágota Kristóf aus Ungarn (1986). Aus jener Bühnenmusik entstand im gleichen Jahr auch die Streichersuite, der sich dieser Beitrag widmet.
Dabei bietet die Romanvorlage selbst eine aufsehenerregende Geschichte, mit sogar zwei Fortsetzungen. „Le Grand Cahier“/„Das große Heft“ ist eine tragische, aus Sicht zweier Protagonisten erzählte Essayabfolge über das Überleben im Zweiten Weltkrieg: Eine Mutter, die ihre heranwachsenden Zwillingssöhne nicht mehr versorgen kann, ist gezwungen, sie zu der Großmutter aufs Land zu bringen. Unter dem Vorsatz, ihnen beizubringen, wie man richtig lebt, zieht die Großmutter sie zu Schwerstarbeit heran, misshandelt und schlägt sie und bezeichnet sie fortan als „Hundesöhne“.
Um sich anzupassen, härten sich beide Jungen schließlich gegenseitig ab. Sie beleidigen und verletzen sich, um den Misshandlungen standhalten zu können und lernen überlebensnotwendige Fähigkeiten, wie Betteln, Lügen, Stehlen und sogar grausames Töten, was auch ihre Moralvorstellungen beeinträchtigt. Als sich der Krieg wendet und zunächst die Wehrmacht, später dann die Rote Armee vergewaltigend, mordend und plündernd durch die Lande ziehen, stehen sie vor der Wahl, das Land zu verlassen oder sich dem Vernichtungskrieg und der späteren Besatzung anzuschließen.
Von den insgesamt 60 Hauptberichten des Buchs bezieht sich Alexander Litvinovskys Streicherkomposition auf insgesamt 12 (alle mit französischen Titeln), die mal malerisch, mal dramatisch ihre eigene Geschichte erzählen. Der erste Satz beispielsweise „Der Wald und der Fluss“ ist eine stark an Pachelbels Kanon erinnernde Szene, die in ihrer Schönheit kaum zu dem im Roman geschilderten Schrecken passen mag. Einzig ihr abruptes Ende nach weniger als 3 Minuten mag hier einen Moment der Überraschung darstellen. Musikalisch hätte diese Wohlfühlserenade aus Violinen und gezupften Bratschen zum Cellogesang aber durchaus länger dauern können.
Die zweite Szene „Warnungen“ bricht indes so unvermittelt wie schroff herein und lässt sich gut auf Fliegeralarm beziehen. Denn obwohl hier nur Streicher beteiligt sind, bricht eine starke Hektik aus, die immer wieder mit schrillen Einwürfen der Violinen an das Aufheulen der Sirenen erinnert.
Mit dem „Winter“ folgt die erste längere Szene dieser Komposition. Und dem eingefleischten Kinogänger erfasst hier ein weiteres Déjà-vu, denn das Cello, das hier die Hauptmelodie zu den langgezogenen Klängen der restlichen Streicher spielt, klingt verdächtig nach der Titelmelodie der James Bond-Spielfilme. Ob diese Assoziation bewusst gewählt oder zufällig ist, lässt sich leider nicht feststellen; Quellen waren dazu keine zu finden.
Auch der Titel der vierten Szene „Unsere Studien“ bezieht sich direkt auf die Romanvorlage, auch wenn die Musik zunächst nicht danach klingt. Diese knapp dreiminütige Episode, die mit viel Pizzicati und dem ein oder anderen Tanzrhythmus sehr fröhlich gehalten ist, stellt Erlebnisse der beiden Zwillinge dar, nach denen sie in einem Café versuchen, durch Jonglieren, Tricksereien und Musikspiel Geld zu verdienen und ihre ersten Bekanntschaften mit Alkohol und Zigaretten machen. Eine Assoziation, die sich ohne das Wissen um die Romanhandlung wohl kaum erschließen dürfte, jedoch kompositorisch einen geradezu treffenden und gleichzeitig aufheiternden Lichtblick bietet. Dieser Szene würden in einem Orchesterarrangement auch sicher Triangel und Tamburin guttun.
Der Titel der fünften Szene, zu Deutsch „Die Dienerin und die Verordnung“ (im Original „La Servante et l’Ordonnance“) ist aufgrund seiner Semantik und ohne weitere Quellenlage schwierig zu deuten. Die Musik spielt hier wahrscheinlich auf die Bäuerin und ihre Tochter an, für die die beiden Zwillinge Essen besorgen. Dafür spricht der auch hier wieder locker gehaltene Tanzrhythmus. Doch findet sich im Roman auch eine Szene, in der die beiden den dorfeigenen Pfarrer um Geld erpressen mit der Drohung, andernfalls das Gerücht in die Welt setzen, er hätte eine Affäre mit ebenjener Bauerntochter. Ist dies also möglicherweise mit der „Verordnung“ gemeint? Zweifelsfrei lässt sich das aktuell nicht bestimmen.
Auch Szene sechs „Das Bad“ ist schwer in die Kapitel der Buchvorlage einzuordnen, wenngleich die Musik auch hier ein sanft fließendes Bild zeichnet. Deutlicher ist der Bezug in Szene sieben, „Großmutters Äpfel“. Dieser unschuldige Titel, der auch musikalisch sehr unscheinbar vertont ist, täuscht darüber hinweg, dass im Roman Nazitruppen eine Gruppe Juden aus dem Budapester Ghetto abtransportieren. Dabei lässt die Großmutter der beiden Zwillinge Äpfel für die Gefangenen fallen, um ihnen so etwas zu Essen zu geben. Dass sie im Roman dafür von den Soldaten schwer misshandelt wird, verschweigt die Musik indes.
Stattdessen lenkt die Musik in Szene acht „Theater“ noch einmal das Augenmerk auf schöne Momente. Tatsächlich findet sich auch im Roman ein Kapitel, in dem beide Zwillinge Theaterstücke aufführen. Unterbrochen wird diese musikalische Idylle durch die deutlich dramatischer vertonten „Anschuldigungen“ in Szene neun. Denn nachdem die Nazis geflüchtet sind begegnen den beiden Zwillingen in einem „Durchgangscamp“ dutzende verkohlter Leichen. Ein Eindruck zwischen einsamer Wut und ewiger Verzweiflung, den Litvinovskys Komposition hier eindrucksvoll auffängt.
Noch dramatischer wird es dann in Szene zehn „Das Feuer“. Als im Roman die Rote Armee einfällt, plündert und brandschatzt, vergewaltigen ihre Soldaten auch die Tochter der zuvor genannten Bäuerin und ermorden diese schließlich. Den beiden Zwillingen kommt die unangenehme Aufgabe zu, anschließend das Haus der Bauernfrau in Brand zu stecken, nachdem sie ihr auf eigenen Wunsch hin die Kehle aufgeschlitzt haben. Ein Eindruck, der durch das rastlose Traben der Streicher sehr gut vermittelt wird, auch wenn das James Bond-Motiv aus Szene 3 hier ein erneutes Déjà-vu erlebt.
Mit Szene elf schließt sich der kompositorische Kreis, denn sie ist die exakte Wiederholung der ersten Szene. Ihr Titel „Ende des Kriegs“ lässt einen Schluss allen Schreckens annehmen und leitet daher auch in die letzte wehmütige Szene „die Trennung“ über, in der beide Zwillinge in einem offenen Ende voneinander Abschied nehmen und getrennte Wege gehen.
Wer sich mit Ágota Kristófs Romanvorlage auseinandersetzt wird merken, dass Litvinovskys Szenenauswahl versucht, den Fokus vor allem auf die kleinen, schönen Momente zu lenken und einen Funken Frieden selbst in großer Not aufzuzeigen. Wichtige Ereignisse, wie beispielsweise den Tod der Mutter, das Wiedersehen mit dem Vater aus der Kriegsgefangenschaft und dessen Ermordung beim Grenzübertritt klammert Litvinovsky bewusst aus. Hätte er dies nicht getan, hätte seine ohnehin schon aufwühlende Musik womöglich auch nicht mehr die Kraft entfalten können, die sie hat.
Da zu Litvinovsky kaum Quellen bekannt sind, kann ich zu meiner Interpretation keine Garantie auf Korrektheit abgeben. Fest steht aber, es hier mit einer eindrucksvollen Komposition zu tun zu haben. Und in Zeiten, wie diesen, in denen uns Krieg, Pandemien und Klimakatastrophen begegnen, ist solch eine Musik aktueller denn je. Eine Musik, die vor Schrecken und Leid durch ebensolche Konflikte nicht zurückschreckt, jedoch versucht, das Gute und Lebenswerte nicht aus dem Blick zu verlieren.
Litvinovksys Wiedergabe der Romanvorlage ist durch ihren Ansatz recht frei gehalten. Andererseits aber sind ihr inhaltlicher Fokus und die Beschränkung auf das Streichorchester aber starke Ausdrucksmittel, die dieses Werk in Erinnerung halten. Wem sein Name vor diesem Artikel also kein Begriff war – so wie mir – dem sei ein Reinhören in Litvinovskys „Le Grand Cashier“ wärmstens empfohlen.
Daniel Janz, 15. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniels vergessene Klassiker (c) erscheint 14-tägig bei klassik-begeistert
Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti – Klassiker 39: Benjamin Britten – War Requiem (1962), klassik-begeistert.de
Benjamin Britten, War Requiem Philharmonie Berlin, 10. September 2021
Autokorrektur ?
le cahier (frz) – das Heft
caShier (engl) – Kassier
Le grand CaShier – gerade ein „vergessener Klassiker“ wird erwartungsgemäß nicht zu den großen Abcashern gehören 😉
Lieber Herr Woltron,
vielen Dank für Ihren wertvollen Hinweis!
Herzlichen Dank
Andreas Schmidt