Der Idiot, Salzburger Festspiele 2024 © Bernd Uhlig
Ausnahmslos exzellente sängerische Leistungen, angeführt von Bogdan Volkov als Myschkin und Aušrinė Stundytė als Nastassja. Grandios unterstützt von alerten Wiener Philharmonikern unter der souveränen Leitung von Mirga Gražinytė-Tyla. Intelligent und lebendig in Szene gesetzt von Krzysztof Warlikowski.
Der Idiot
Komposition von Mieczysław Weinberg
Libretto von Alexander Medwedew nach dem Roman von Fjodor Dostojewski
Musikalische Leitung Mirga Gražinytė-Tyla
Herren der Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor
Wiener Philharmoniker
Regie Krzysztof Warlikowski
Felsenreitschule, Salzburg, 2. August 2024
von Frank Heublein
In der Felsenreitschule in Salzburg wird an diesem Abend die Premiere von Mieczysław Weinbergs Der Idiot gegeben. Die in 1986/87 entstandene Oper wurde 2013 uraufgeführt.
Was für eine Leistung! Tenor Bogdan Volkov gibt den Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, den Titel gebenden Menschenversteher, den Idioten. Denn er will den Gefühlen der Anderen gerecht werden, die schweren trüben mildern, wie den überbordenden Schmerz Nastassjas.
Superstarkes Spiel Volkovs. Phantastisch beklemmend spielt der die entscheidende Epilepsieszene am Ende des ersten Aktes. Und dabei singt er kontrolliert und kräftig! Hammer! Seine Stimme ist voll von warmem mitfühlendem Timbre. Seine Stimme elastisch und so fest wie immer nötig in all dem Zögern, Zweifeln, Hadern und Zerrissensein. Wann hätte Dostojewski auch schon Helden in seine Romantitel gesetzt? Niemals. Auch Myschkin ist, wie alle Titelfiguren der großen Romane des Autors, eine scheiternde und an der Welt zerbrechende Gestalt. Das bringt Volkov absolut überzeugend rüber, ganz tief in mich hinein legt er diese flammenden Gefühle.
Nastassja Filippowna Baraschkowas emotionalen Haushalt in seiner vollen Schiefe gibt Sopranistin Aušrinė Stundytė eine phantastische stimmliche Ausdifferenzierung. Die bravourös gemeisterten abrupten Wechsel zwischen Forte und Piano nutzt sie, um emotionale Facetten zu betonen. Kraftvoll, voller Energie, voller Herz und voller Schmerz. Phantastisch lebendig, leibhaftig erschafft Stundytė ihre Figur.
Bariton Vladislav Sulimskys Partie des Parfjon Semjonowitsch Rogoschin ist der Initiator all des Unglücks, dass ich auf der Bühne sehe. Er macht Myschkin auf Nastassja aufmerksam. Er ist sein Rivale und zugleich sein Freund. Großspurig legt er ihn anfangs gesanglich an, er will Nastassja mit 100.000 Rubel Brautgeld kaufen. Im Verlauf dann immer tiefer verzweifelnd. Stimmlich energisch, vollmundig, rund.
Die Figur Lukjan Timofejewitsch Lebedjew ist mephistotelisch aufgeladen. Bariton Iurii Samoilov singt und spielt das diabolisch gut. Stets den Kopf und die Schulter schief. Eine Art Erzähler, der die Handlung zu voller Dramatik hin manipuliert. Keck, kontrolliert, stimmlich nie überbordend, stets kontrolliert und die Situation bestimmend. Er schreibt Briefe, verteilt Briefe, die Schmerz entfachen. Er labt sich daran, wie Myschkin und Nastassja leiden.
Aglaja Iwanowna Jepantschina kommt erst nach der Pause so richtig ins Spiel. Mezzosopranistin Xenia Puskarz Thomas fordert Myschkin heraus. „Machst Du mir jetzt einen Antrag oder nicht?“ setzt sie Myschkin die emotionale Pistole an sein Herz. Ihre Stimme wird zum eisenharten Strahl. Stimmlich entschlossene Härte, die doch zuletzt vor dem rasenden Schmerz Nastassjas kapituliert.
Souverän elegant leitet Mirga Gražinytė-Tyla die Wiener Philharmoniker. Klangfarben schillern vielfältigst, das Orchester wirkt zu jeder Zeit alert, voller aufmerksamer Spannung. Wie ein Meer mit den Stimmen als Booten, die darauf fahren. Zuweilen groß auftürmende Wellen, peitschender Sturm.
Den für mich stärksten orchestralen Moment hebt sich Weinberg für den Schluss der Oper auf. Der ist nicht etwa pompös und laut. Im Gegenteil, die letzten fünf bis zehn Minuten sind fast die ersten, in der sich das Orchester musikalisch von den Stimmen abkoppelt. In einem mir den Atem raubenden intensiven immer noch leiser werdenden Piano. Drama pur ob sinnloser Verzweiflung und Ausweglosigkeit, denn auch der Tod bringt keineswegs Erlösung. So ist das bei Dostojewski.
Krzysztof Warlikowski gestaltet mit seinem Team den Raum geschickt und kreativ. Er nutzt die sehr breite Bühne der Felsenreitschule dramatisch exzellent. Ein Raum im Raum, der die dramatische Fokussierung der Handlung unterstützt. Gekonnter Einsatz von Video zu Anfang etwa, wenn durch das laufende Video die Imagination einer Zugfahrt erzeugt wird. Die rein physische fünfzig Meter langen Auf- und Abtritte der Sängerinnen und Sänger, teilweise im Bühnensprint, erzeugen Dynamik. Seine Inszenierung unterstützt die Handelnden. Er arbeitet in der physischen Aktion die Emotionalität der Figuren tiefer heraus.
Am Ende werden ausnahmslos alle Künstler auf der Bühne stürmisch beklatscht. Laute Bravos. Völlig verdient. Oper wie ich sie liebe. Charaktere, die die Sänger durch Spiel und – ausnahmslos exzellenten! – Gesang zum schmerzhaften Leben erwecken. Weinbergs Musik ist im selben Moment voller selbständiger Klangfarbe und stets zugleich tragende Welle der Stimmen. Faszinierend und ein großer Wurf in Salzburg. Weinbergs Musik reißt mich mit und bewegt mich tief.
Frank Heublein, 3. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung
Musikalische Leitung Mirga Gražinytė-Tyla
Regie Krzysztof Warlikowski
Bühne und Kostüme Małgorzata Szczęśniak
Choreinstudierung Pawel Markowicz
Licht Felice Ross
Video Kamil Polak
Choreografie Claude Bardouil
Dramaturgie Christian Longchamp
Besetzung:
Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin Bogdan Volkov
Nastassja Filippowna Baraschkowa Aušrinė Stundytė
Parfjon Semjonowitsch Rogoschin Vladislav Sulimsky
Lukjan Timofejewitsch Lebedjew Iurii Samoilov
Iwan Fjodorowitsch Jepantschin, General Clive Bayley
Jelisaweta Prokofjewna Jepantschina, seine Frau Margarita Nekrasova
Aglaja Iwanowna Jepantschina Xenia Puskarz Thomas
Alexandra Iwanowna Jepantschina Jessica Niles
Gawrila (Ganja) Ardalionowitsch Iwolgin Pavol Breslik
Warwara (Warja) Ardalionowa Iwolgina Daria Strulia
Afanassi Iwanowitsch Totzki Jerzy Butryn
Messerschleifer Alexander Kravets
Adelaida Iwanowna Jepantschina Jutta Bayer
Mieczysław Weinberg „Der Idiot“ Museumsquartier Halle E, Musiktheater an der Wien, 3. Mai 2023
Buchbesprechung „Mieczysław Weinberg. Auf der Suche nach Freiheit“ klassik-begeistert.de