„In mir sind eure Herzen, eure Tränen und euer Lächeln, in mir ist eure Liebe“

Mieczysław Weinberg, Die Passagierin Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, München, 10. März 2024 PREMIERE

Die Passagierin 2024, S. M. Dordel © M. Braun, J. Dahl

So kann ich in den berechtigten Begeisterungssturm am Ende dieser Premiere nicht eintauchen. Denn die Faust dieser sehr guten Inszenierung, dieser großartigen Oper hat mir den Atem genommen. Ambivalente Gefühle. Die Ausführenden müssen bejubelt werden. Sie müssen wissen, dass dieser Abend ein großer, ein wichtiger ist. Zugleich ist die Erleichterung, dass die Oper zu Ende ist, ich in einem Hier und Jetzt bin ohne dieses Trauma, ein Wunschtraum. Wie kann das alles gehen – ohne Hass und mit Verzeihen? Ich weiß es nicht.

Die Passagierin (1968)
Komponist   Mieczysław Weinberg (1919-1996)
Libretto von Alexander W. Medwedew (1927-2010) nach dem gleichnamigen autobiografischen Roman Pasażerka von Zofia Posmysz (1923-2022).

Konzertante Uraufführung 2006 in Moskau, szenische Uraufführung 2010 bei den Bregenzer Festspielen.

Musikalische Leitung   Vladimir Jurowski
Inszenierung   Tobias Kratzer
Bühne und Kostüme   Rainer Sellmaier
Licht   Michael Bauer
Video   Jonas Dahl, Manuel Braun
Chöre   Christoph Heil
Dramaturgie   Christopher Warmuth

Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor

Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, München, 10. März 2024 PREMIERE

von Frank Heublein

Wer diese Produktion sieht, sieht eines der wirkmächtigsten Stücke der vergangenen Dekade an der bayerischen Staatsoper. Das meine ich nicht nur musikalisch. Das auch, oh ja! Dieses Stück hat gesellschaftlich-moralische Relevanz.

Der phänomenale Grundstein des Abends ist das Bayerische Staatsorchester unter seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski. Skalpellhafte Tempi- und einhergehende Emotionswechsel. Vom lockeren Jazz und „lass uns Tanzen gehen“ zu meinen Bauch-Herz-Hirn Schmerz zerreißenden Ausschwitzlagerrealität, musikalisch verziehen sich die Melodien ins düster Dumpfe, Schräge, tonal Falsche. Denn das Lager Ausschwitz, das wird an diesem Abend in mein Gedächtnis gebrannt, war zu keinem Zeitpunkt „normal“. Selbst wenn sich die Sozietät des Lagers den Menschen, die dort hineingezwungen waren, eine gesellschaftliche Form geben musste. Eine großartige Leistung ist das vom Orchester. Bravo!

Weinbergs Musik ist Gefühlsattacke, gerade weil Einschmeichelndes unmittelbar ins Grauenhafte kippt und wieder zurück. Das Orchester ist extrem präsent, Weinbergs Musik ist Gefühl in mir, sie erzeugt nicht nur Gefühl in mir.

Die Passagierin 2024 © W. Hoesl

Der erste Akt ist klug inszeniert von Tobias Kratzer als Außenbalkone der Schiffskabinen. Diese können sich öffnen. In der Tiefe des Raums sind die Kabineninnenräume zu sehen. Zugleich öffnet sich dadurch eine andere zeitliche Dimension. Denn der Abend umfasst drei zeitliche Ebenen.

Eins: Die alte Lisa, die die Urne ihres Mannes Walter zurück nach Deutschland überführt. Mein Heute.
Zwei: Die Fahrt von Lisa und Walter nach Brasilien um 1970.
Drei: ca.1942 im Lager Ausschwitz, in dem Lisa eine Aufseherin ist.

Die Zeitzonen werden auch musikalisch merkbar voneinander getrennt. Ein Kunststück Kratzers und Jurowskis, denn im Libretto, das 1967/68 verfasst wurde, ist die erste Zeit des „mein Heute“ logischerweise gar nicht vorhanden.

Das besondere an der Romanvorlage und des Librettos: die Geschichte wird aus Sicht einer Täterin, der Auschwitz Lageraufseherin Anneliese Franz, genannt Lisa erzählt.

Stimmlich ergreifen mich die Stimmen aus dem Graben und der Chor von hinter der Bühne, sie erwischen mich immer wieder aufs Neue unerwartet.

Es sind Geisterstimmen. Stimmen aus dem Lager, die im Trauma Lisas erneute Wirklichkeit werden, auch in mir Wirklichkeit werden.

Sibylle Maria Dordel spielt die alte Lisa fast stumm, spricht erst am Ende des ersten Aktes. Erschrickt sich, wenn sie sich am Anfang der Oper selbst vor 50 Jahren auf der Fahrt nach Brasilien sieht. Durch ihr stummes Spiel sticht sie mir das Grauen ihres Traumas, das Grauen des Lagers mitten durchs Herz, das sich vor ihren und meinen Augen abspielt. Ich fürchte mich vor der nächsten Er-Öffnung, der nächsten zeitlichen Erinnerung, dem nächsten Grauen. Denn in mir werden durch die gesanglich vorgetragene Handlung die Schiffskabinen zu Lagerblocks in Auschwitz.

Die Passagierin 2024, S. Koch © W. Hoesl

Der Beginn des zweiten Aktes ist der „Walzer des Lagerkommandanten“.

Ein visualisiertes Trauma von Lisa, der Hauptperson des Stücks und SS-Aufseherin zu Tage. Ich glaube, ich bin an meinen emotionalen Grenzen. Nein. Bin ich nicht! Denn es folgt die Szene, in der Lisa Marta erniedrigt. Die Machtverhältnisse gegenüber der Insassin Marta aus- und benutzt. Fies, unverfroren, Emotionen verdrehend, sich als Täterin zur Retterin und fürsorglichen Geschenkegeberin gerierend. Hervorragend interpretiert und singt Mezzosopranistin Sophie Koch Lisa. Sie bietet Marta an, Tadeusz noch einmal allein sehen zu dürfen. Lisa reißt Marta mit dieser Offerte als Signal der Unterwerfung das Kleid vom Leib. Mir dreht sich der Magen um.

Marta wird gesungen und gespielt von Sopranistin Elena Tsallagova. Fast nackt singt sie also die Arie „Hätte Gott mich zu sich gerufen“. Fast nackt, mit Mut, mit Herz, mit Überzeugung, mit voller Energie. Für diesem mich ergreifendsten Moment der Oper erhält sie verdient den stärksten Schlussapplaus des Abends. Der Tod ist nicht das Schlimmste, sondern das Sich-selbst-nicht-in-die-Augen-schauen-können.

Der folgende Dialog offenbart den Kern der gesellschaftlichen Diskussion, wie wir mit Kriegsverbrechen umgehen und umgehen wollen. Aus Sicht der Einzelnen Lisa psychologisch nachvollziehbar.

„Lisa: Ja, ja, ich war in Auschwitz, und deshalb bin ich sicher noch keine Verbrecherin. Ich war eine ehrliche Deutsche. Ich bin stolz, denn ich tat meine Pflicht!

[…]

Walter: Mein armes Mädchen, hast gelitten und viel durchgemacht …

Lisa: Muss ich denn für alles und für alle die Verantwortung übernehmen?

Walter: Nein, du bist nicht verpflichtet. Es war halt Krieg. Das ist schon lange her. Jeder hat das Recht, den Krieg zu vergessen.“

Nein! Niemand hat das Recht, den Krieg zu vergessen. Die letzten gesungen Worte der Oper sind Worte Martas aus der Tiefe des Grabens – auf polnisch: „In mir sind eure Herzen, eure Tränen / und euer Lächeln, in mir ist eure Liebe. / Ich weiß ja, weiß es: Wenn eines Tages eure… / Stimmen verhallt sind, / dann gehen wir zugrunde. / Ich werde euch nie und nimmer vergessen…“

Sie sind in meinem Herzen eingeschweißt. Ich hoffe, in allen Herzen der Menschen, die diesen Abend erlebt haben. Denn nur so wird ein „nie wieder“ überhaupt und erst möglich. Nur so gewinne ich Haltung gegenüber Krieg, auch und gerade solchen, die in „meinem Heute“ ausgefochten werden.

So kann ich in den berechtigten Begeisterungssturm am Ende dieser Premiere nicht eintauchen. Denn die Faust dieser sehr guten Inszenierung, dieser großartigen Oper hat mir den Atem genommen. Ambivalente Gefühle. Die Ausführenden müssen bejubelt werden. Sie müssen wissen, dass dieser Abend ein großer, ein wichtiger ist. Zugleich ist die Erleichterung, dass die Oper zu Ende ist, ich in einem Hier und Jetzt bin ohne dieses Trauma, ein Wunschtraum. Wie kann das alles gehen – ohne Hass und mit Verzeihen? Ich weiß es nicht.

Frank Heublein, 11. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung

alte Lisa   Sibylle Maria Dordel
Lisa   Sophie Koch

Walter   Charles Workman
Marta   Elena Tsallagova
Tadeusz   Jacques Imbrailo
Krystina   Daria Proszek
Vlasta   Lotte Betts-Dean
Hannah   Noa Beinart
Bronka   Larissa Diadkova
Yvette   Evgeniya Sotnikova

  1. SS-Mann   Bálint Szabó
  2. SS-Mann   Roman Chabaranok
  3. SS-Mann   Gideon Poppe

Älterer Passagier   Martin Snell
Oberaufseherin / Kapo   Sophie Wendt
Steward   Lukhanyo Bele

Buchbesprechung „Mieczysław Weinberg. Auf der Suche nach Freiheit“ klassik-begeistert.de

CD-Besprechung – Mieczyslaw Weinberg: Wir gratulieren! klassik-begeistert.de

Mieczysław Weinberg „Der Idiot“ Museumsquartier Halle E, Musiktheater an der Wien, 3. Mai 2023

 

2 Gedanken zu „Mieczysław Weinberg, Die Passagierin
Bayerische Staatsoper, Nationaltheater, München, 10. März 2024 PREMIERE“

  1. Sehr geehrter Herr Schmidt, sehr geehrter Herr Heublein,
    GLÜCKWUNSCH zu Ihrem Blog!! Die Idee, Rezensionen von gut vorbereiteten und ‚professionellen Freiwilligen‘ schreiben zu lassen, ist grandios. Ich entdecke Sie erst heute, aus gegebenem Anlass:
    Ich bin die ALTE LISA aus der aktuellen Produktion an der Münchner Staatsoper und möchte Ihnen für Ihren engagierten und treffenden Artikel über die Inszenierung ‚Die Passagierin‘ danken.
    Sie haben mir und sicher vielen anderen der Produktion eine große Freude bereitet. In seinem Anliegen gesehen und verstanden zu werden, ist so wichtig für die weitere Arbeit, für jeden an einem so großen Prozess Beteiligten.
    Heute Abend nun die nächste ‚Premiere‘, so wie an jedem nächsten Aufführungsabend…
    Mit sehr herzlichen Grüßen und guten Wünschen für den kommenden frei-willigen Einsatz von Ihnen und Ihren KollegInnen
    Sibylle Maria Dordel

  2. Es gibt eine neuere Biographie von Weinberg – mit neuen Informationen über diese Oper:
    Danuta Gwizdalanka – Der Passagier. Der Komponist Mieczysław Weinberg im Mahlstrom des zwanzigsten Jahrhunderts; Übersetzt von Bernd Karwen – Harrasowitz Verlag 14.04.2020
    ISBN: 978-3-447-11409-7

    Christoph Schmaltz

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