Foto: Siegfried © Ludwig Olah
Der dritte Abend. Also Siegfried. Die Theaterstuhlreihen auf der Bühne sind verschwunden; stattdessen finden sich einfache Stühle wild auf der Bühne verteilt. Sie erinnern an das IKEA-Modell „JOKKMOKK“. Sie aufzubauen, ließ vermutlich die Bühnenausstatter nachfühlen, wie sich Siegfried beim Schmieden von Nothung gefühlt haben muss. Es hat sich aber gelohnt. Denn auch der Siegfried war in Dresden ein Triumph.
Richard Wagner
Siegfried
Christian Thielemann, Dirigent
Staatskapelle Dresden
Willy Decker, Regie
Wolfgang Gussmann, Bühnenbild
Semperoper Dresden, 30. Januar 2023
von Willi Patzelt
Man hat noch Wotans Abschied im Ohr – die großen Emotionen auf dem Brünnhilde-Felsen im dritten Akt der Walküre. Dann findet sich im Siegfried ein ganz anderes Bild. Nach den großen Gefühlsausbrüchen gibt es jetzt ein – so von Christian Thielemann in einem Interview genannt – „operettöses, oberflächliches Tohuwabohu“. Der orgiastische Wagner macht vorerst Pause, denn ein dummer Junge hat Held zu werden.
Wir sind nun vollends in der harten Realität des „Rings“ angekommen. Planung und Ausprobieren führen nicht mehr weiter; die Bühne auf der Bühne hat fürs erste ausgedient. Wotans Wälsungen-Plan ist vorerst gescheitert; Siegfried wächst bei seinem Ziehvater Mime auf, Alberichs ebenso zwergischem Bruder. Wotan treibt es als Wanderer durch die Welt, und Brünhilde liegt, feuerumgeben, in tiefstem Schlaf. Im selbigen liegt auf seinem Gold meist auch Fafner, durch Tarnhelm nun Drache, und begnügt sich mit bloßem Besitz. An den wollen auch Mime und Alberich, was im Erfolgsfall sehr üble Folgen hätte. Die Situation ist also verfahren. Da steigt aus tiefstem musikalischen Dunkel Siegfried auf zum freien Helden.
Nach seinem großartigen Siegmund sieht und hört man erneut Andreas Schager. Der zeigt einen präpotenten, aufmüpfigen Wälsung. Dummdreist beleidigt der den ungeliebten Mime aufs übelste. Schager versteht sich sängerisch nicht nur darauf, mit seinem riesigen Tenor den Zuschauer bei den Schmiedeliedern regelrecht in den Stuhl zu drücken, sondern er ist auch in den schnellen, vielfach giftigen Parlando-Stellen nicht nur äußerst textverständlich, sondern zeigt obendrein mit beeindruckender schauspielerischer Leistung einen Siegfried, der wirklich losgelöst freidreht – sich frei loslöst.
Jürgen Sacher als Mime vermag da schon mitzuhalten. Man nimmt ihm phasenweise den giftigen Zwerg gut ab. So ganz überzeugt er aber nicht. Denn wer den Mitschnitt des Chéreau-Rings von 1976 mit Heinz Zednik als Mime gesehen hat, der merkt, wie viel Potential dieser Rolle da in Dresden unausgeschöpft blieb. Auch könnte zuweilen die Textverständlichkeit besser sein. Sacher ist also kein schlechter Mime; doch neben Schager hat er es eben schwer.
John Lundgrens Wotan, mittlerweile Wanderer, überzeugt weiterhin. Ebenso tun das Markus Marquardt als Alberich und Stephen Milling als Fafner. Der Däne trifft die Stimmfarbe eines faulen, schlafenden Drachens vorzüglich. Als die „Ur-Wala“ Erda, im Rheingold noch Michal Doron, war diesmal Christa Mayer besetzt – und keine Verbesserung.
Besonders hervorzuheben ist Mirella Hagen. Sie singt die Stimme des Waldvogels aus Off, gleichsam als Unterbewusstsein oder innere Stimme Siegfrieds. Auf der Bühne dargestellt als der noch ganz kindliche Siegfried, weist dieser, sozusagen von Anfang an, dem Helden den Weg zu Brünhilde. Eine wirklich schöne Idee! Auch erklingt des Waldvogels Stimme in bestechender Klarheit, ohne sonderliches Tremolo, deshalb in großer Verständlichkeit und mit selbsttragender stimmlicher Größe. Warum dann aber, ausgerechnet am einstweiligen Ziel dieser äußeren und inneren Reise Siegfrieds, ihm Ricarda Merbeth als Brünhilde die große orgiastische Schlussszene mit einem Tremolo singt, das eher nach Kriegserklärung als nach Liebe klingt, erschließt sich weder aus Wagners Textbuch noch aus Deckers Inszenierung.
Siegfrieds Wahrnehmung der Natur ist Quelle seines Erkenntnisprozesses. Dieses Erleben ist als „Waldweben“ von Wagner herrlich komponiert und aufregend instrumentiert. Der Mischklang, den Thielemann da aus der Kapelle zaubert, ist einfach betörend. Man will in ihm versinken. Dieses Orchester – Wagner selbst bezeichnete es einst als seine „Wunderharfe“ – ist derzeit schwer zu übertreffen bei der Interpretation Wagnerscher Musik. Leider gibt es an diesem Abend einige Stellen, vor allem hin zum Schluss, bei denen klar zu lautgespielt wird. Höchst ungewöhnlich für Thielemann – und wirklich nur ein kleiner Makel, der die Klasse dieses Opernabends nicht schmälert.
Am Ende sehen wir die Theaterstuhlreihen wieder. Es gibt erneut einen ausführbaren Plan. „Götterdämm’rung, dunkle herauf!“, singt Brünhilde.
Auch beim Zuschauer ist die Vorfreude auf die Götterdämmerung groß. Deshalb noch eine Abschlussthese These: Dieser Ring ist zu kurz! Zumindest in Dresden dürfte er doppelt so lange dauern, denn hier ereignet sich ganz großes Musiktheater.
Willi Patzelt, 1. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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