„Die Entführung aus dem Serail“ – Ist diese Oper heute noch zu retten?

Die Entführung aus dem Serail, Oper von Wolfgang Amadeus Mozart  Volksoper Wien, 20. Juni 2023

Stefan Cerny als Osmin mit Hedwig Ritter als Blonde  © Barbara Pálffy

Volksoper Wien, 20. Juni 2023


Die Entführung aus dem Serail
Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

In deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln


von Lothar und Sylvia Schweitzer

Wenn Bassa Selim im Osmanischen Reich nicht nur integriert, sondern auch assimiliert erscheint, bleibt die Frage, aus welchen unbewussten seelischen Vorgängen er seinen Entschluss zur Milde schöpft. In Mozarts Oper geht es einseitig ausschließlich um mögliche Ehen zwischen einem Moslem und einer Christin, die nach dem Koran Christin bleiben dürfte. Nicht behandelt wird der umgekehrte Fall. Der Mann muss aus Überzeugung zum Islam übertreten. Der Tiermediziner, Zoologe und Verhaltensforscher Bernhard Grzimek prägte den Satz: „Befriedung geschieht durch Vermischung.“ Die Bildung von Parallelgesellschaften bleibt also weiterhin ein Problem. In der Alternativ-Inszenierung an der Wiener Staatsoper sind die beiden Blonden nach alter Mode very british gekleidet, an der Wiener Volksoper ist die Zofe in Schwarz. Müsste sie nicht in Hot Pants auftreten und Osmin ihr eine Moralpredigt halten?

Der Regisseur Nurkan Erpulat © Barbara Pálffy

Der Regisseur Nurkan Erpulat oder die Dramaturgin Magdalena Hoisbauer geben den einzelnen Aufzügen Titeln und beginnt mit „Vor dem Tor“. Die Dynamik des ersten Akts besteht ja für Belmonte in der Schwierigkeit bei Selim Bassa vorstellig zu werden. Nurkan Erpulat ließ sich von türkischen Kaffeehäusern inspirieren, die sich nach außen hin mit Milchglasfenstern verbergen. Ja, seine assoziativen Gedanken schweifen noch weiter aus zu einem Türsteher mit Migrationshintergrund, der sich weder mit „draußen“ noch mit „drinnen“ zu identifizieren weiß.

Magda Willi zeigt uns keine Mauer mit einem fest verschlossen Tor, über welcher – Selim Bassa soll an Architektur sehr interessiert sein – Kuppeln und Dächer die Fantasie anregen. Sie baut im vorderen Teil der Bühne eine metallisch wirkende Wand mit einem großen offenen Rechteck in der Mitte, das durch eine dichte Reihe von herabhängenden Schnüren eine Abgrenzung darstellt. Man könnte meinen, dies stellt für unsren Helden kein Hindernis dar, aber beim Eindringen wird er immer wieder von den wirbelnden Kordeln herausgepeitscht. Aus unsren Reiseerfahrungen in nordafrikanischen Ländern wissen wir ganz einfach, dass der Araber nicht nach außen mit Balkonen oder Säulenfassaden protzt. Sein Paradies bleibt intim. Deswegen erhält der zweite Akt den Namen „Der Paradiesgarten“. Neben einer überdimensionalen Feigenfruchthälfte

Magda Willi © Barbara Pálffy

sind es besonders die frivolen Fantasien der Choreografin Gail Skrela und die dazugehörigen Kostüme von Aleksandra Kica und nicht die Kulissen eines klassischen Gartens, die uns in Bann ziehen sollen. Im dritten Akt „Das Luftschloss“ wird der misslingende Versuch der Flucht sparsam mit zwei von den umherirrenden Belmonte und Pedrillo geschleppten Leitern symbolisiert.

© Barbara Pálffy

Dass Selim Bassa und Osmin Röcke tragen wirkt im ersten Moment als Abklatsch der Regenbogenparade. Wir haben uns interessehalber historische Bilder der Sultane angesehen. Nicht immer waren männliche und weibliche Kleidung so unterschieden, wie wir es noch gewöhnt sind. Und wir erinnern uns an Anfragen der Katholischen Jugend an die hohe Geistlichkeit, warum sie sich wie alte Tanten kleiden.

Wir erlebten vor etwa zweieinhalb Jahren die beeindruckendste Konstanze unsrer Erfahrungen mit dieser Oper. Trotzdem gilt bei Rebecca Nelsen nicht das geflügelte Wort: „Das Beste ist der Feind des sehr Guten.“ Es tat uns weh, dass sie bei ihrem Vorhang, der als Höhepunkt gedacht und angesetzt war, nicht die von uns erwarteten Dezibel an Beifall erreichte.

Rebecca Nelsen © Maximilian Van London

Ihr Belmonte Timothy Fallon ist ein US-Landsmann von ihr und war Schüler des berühmten Juilliard Opera Center in New York. Wir hörten keinen gewohnten Mozarttenor. Auch in seinem Äußeren erinnerte er uns stark an den Charaktertenor Gerhard Stolze. Wie hätte Stolze wohl in dieser Partie geklungen, hätte er sie in seinem Repertoire gehabt? Fallons bzw. Regisseur Erpulats Belmonte streicht das Furchtsame, Unsichere seines Charakters fast bis zur Karikatur heraus.

Timothy Fallon als Belmonte © Barbara Pálffy

Stefan Cerny ist nicht als Star der Wiener Opernszene zu sehen wie der erste Osmin Johann Ignaz Ludwig Fischer, dem der Ruf nachging, seine Tiefe erreiche nur um einen Ton nicht die unterste Grenze des Violoncellos. Cernys Bass ist kräftig, aber nicht samten. Bei „Das ist des Bassa Selims Haus“ vermissten wir das Ausladende und Breite in der Tiefe, wie vor über vierzig Jahren in diesem Theater bei Artur Korn genossen. Angenehm überrascht wurden wir bei Osmins letzter Arie, als Cerny uns ein tadelloses großes D präsentierte.

An anderem Ort schrieben wir einmal in einer „Entführung“-Rezension, dass die Position einer Zofe einen Aufstieg in höhere gesellschaftliche Kreise bedeutete und spielten damit auf die Gleichwertigkeit beider Soprane der damaligen Vorstellung an. An diesem Abend war mit Hedwig Ritter, die Würzburger Königin der Nacht, die Blonde schon gröber gezeichnet. Das Ensemblemitglied der Staatsoper Hamburg, Daniel Kluge, verkörperte einen höhensicheren Pedrillo.

Die Theorien, warum Selim Bassa (in der Produktion Murat Seven mit kurdisch-türkischen Wurzeln) eine Sprechrolle ist, gehen auseinander. Die Stimmlage eines Herrschers war im 18. Jahrhundert einem Tenor vorbehalten und mit Belmonte besetzt. Oder sollte. mit dem gütigen Pascha (höchstrangiger Beamter des Osmanischen Reichs, italienisch bassa oder pascià) für Joseph II. geworben und die Rolle distinguiert behandelt werden? Eine weitere Erklärung wäre, die Oper als Singspiel zu bringen. Laut dem Opernführer „Opera“ hatte Joseph II. die Absicht dem Wiener Vielvölkergemisch richtiges Deutsch beizubringen. Doch ein Jahr nach der Uraufführung setzte sich die italienische Interessensgruppe durch und der hochverehrte Bass Ludwig Fischer wurde gekündigt. Ein österreichisches Schicksal.

Murat Seven © Greg Veit

Wir würden einen Bariton als ausgleichende Stimmlage begrüßen. Aber das Schlusswort des Selim Bassa ufert durch neue Textpassagen des afghanisch-deutschen Literaturwissenschafters, Rappers und Poetry-Slammers (Dichterwettstreiters) Sulaiman Masomi zu einer wohl gut gemeinten, aber ermüdenden Rede aus, die zum Beispiel Blondes Freiheitsliebe mit der britischen kolonialen Herrenmentalität konfrontiert. An anderen Stellen lösten simplifizierende tagespolitische Anspielungen hörbare Proteste aus den Reihen des Publikums aus.

Sulaiman Masomi © Marvin Ruppert

Alfred Eschwé dirigierte und wir erlebten einen uns vertrauten Mozart. Wir gestehen, ohne die virtuosen und doch gefühlvollen Arien der Konstanze und die wohl tiefsten Bassarien der Opernliteratur wäre die „Entführung“ nicht so attraktiv für uns.

So wie auf Initiative von Lotte de Beer „Die Entführung aus dem Serail“ produziert wurde, braucht man bezüglich Ressentiments kein schlechtes Gewissen haben. Leider ist der Versuch nicht als geglückt zu bezeichnen.

Wie würde wohl Mozart mit unsren heutigen Erfahrungen sein Werk umgestalten? Obwohl wir selbst das Süreyya Opernhaus im anatolischen Teil der Stadt besucht haben, glauben wir nicht, dass viele unsrer türkischen und arabischen Mitbürger diese Oper besuchen werden, denn der Koran soll dem Theaterwesen skeptisch gegenüberstehen. Was unsre türkischen Mitbürger betrifft, fehlt uns zwar viel an Erfahrung, aber wir erleben im Alltag sehr häufig im Generationensprung den Aufstieg von gröberen Diensten zu kaufmännischen Angestellten und zu Filialleitern.

Arabische Kollegen habe ich während meiner Studienzeit als sehr hilfsbereit schätzen gelernt. Auch später wurden Freundschaften geschlossen und wir sind deswegen etwas sensibilisiert. Vielleicht gefällt uns deswegen nicht das Betrunken-Machen des Osmin. Bei gemeinsamen Essen verzichten wir auf alkoholische Getränke und bei einem Dialog-Treffen von der Pfarre aus, servierten wir vegetarische Brötchen. Der Ruf der Anpassungsfähigkeit des Österreichers geht weit über unsere Grenzen hinaus. Wenn man Österreich nicht erst mit der Ersten Republik beginnen lässt, so können wir unser kollektives Gedächtnis in multikulturellen Situationen erfolgreich nützen.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 25. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail Volksoper Wien, 17. Juni 2023

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail  Staatsoper Hamburg, 15. Oktober 2022

Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail Staatsoper Hamburg, 6. Oktober 2022

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