Die Geschichte der Wagnerismus und seiner Anhänger

Die Geschichte der Wagnerismus und seiner Anhänger, Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“  klassik-begeistert.de

Rezension des Buches von Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne.“

von Jolanta Łada-Zielke  

Als ich von diesem Buch erfuhr, fragte ich mich: Was kann man noch über Wagner schreiben? Die gesamte Literatur über ihn umfasst bereits viele, viele Regalmeter. Die Lektüre der ersten Seiten hat mich jedoch überzeugt: Gut, dass diese Publikation herausgegeben wurde! Der Autor zeigt detailliert, wie sich die Wagner-Legende und der Einfluss von Wagners Werken auf die außermusikalische Kunst in der ganzen Welt verbreiteten, vor allem nach seinem Tod in Venedig am 13. Februar 1883. Seine Schöpfung hinterließ Spuren in Literatur, Malerei, Architektur, Philosophie, Theater, Film und natürlich in der Politik. Die Wagnergesellschaften und -vereine agieren in über 40 Ländern „von Venezuela bis Singapur“, so Ross.  

Der Autor schreibt, anfangs habe der Begriff „Wagnerianer“ eine ironische Konnotation gehabt. Heute wissen wir, dass das Wort „Wagnerismus“ mehrdeutig und facettenreich ist. Es verbreitete sich am meisten in Frankreich, Österreich und Deutschland, hatte aber auch Anhänger in anderen Ländern. In Italien schätzte Gabriele d’Annunzio Wagner mehr als Verdi, und Barcelona in Katalonien war die erste europäische Stadt, die den „Parsifal“ außerhalb von Bayreuth aufführte. Die Franzosen sahen ihn als Vertreter der dekadenten Kultur der Moderne, während die Engländer ihn für die Förderung der arthurianischen Mythen schätzten.

Das Gesamtkunstwerk, die unendliche Melodie und die Leitmotive waren die inspirierenden Aspekte Wagners Werk für die Künstler des 19. und 20. Jahrhunderts. Zu den berühmtesten  Wagnerianern zählen: Bernard Shaw, James Joyce, T.S. Eliot, Stéphane Mallarmé, Charles Baudelaire, Paul Verlaine, Emil Zola, Marcel Proust, Virginia Woolf, Willa Cather, Yukio Mishima. Darunter gibt es auch die impressionistischen und avantgardistischen  Maler: Paul Cézanne, Vincent van Gogh, Paul Gauguin, Wassily Kandinsky, Salvador Dali; sowie amerikanische Architekten: Daniel Burnham, Louis Sullivan, die Tänzerin Isadora Duncan und der Aktionskünstler Joseph Beuys. Einige separate Kapitel widmet Ross den Brüdern Mann, deren schriftstellerische Arbeit – besonders bei Thomas –von Wagner durchgedrungen ist. Der Autor schildert auf interessante Weise Thomas Manns Bemühungen, seinen Lieblingskomponisten vor der Aneignung durch die Nazis zu retten.

Thomas Mann, (c) wikepdia

Richard Wagner hatte auch Verehrer unter den großen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Königin Victoria empfing den Komponisten zweimal in der Audienz, seine Musik mochten auch Zar Nikolaus II. und sogar Vladimir Lenin. Die Sponsoren der ersten Bayreuther Festspiele waren unter anderem der damalige Sultan des Osmanisches Reichs und Ismail Pascha, der Vizekönig von Ägypten.

Die Faszination für Wagner war nicht überall gleich. Für einige durchlief sie verschiedene Phasen, von ekstatischer Liebe bis Langeweile oder sogar Abneigung. Bertold Brecht bewunderte den Komponisten in seiner Jugend und später nicht mehr, genauso wie Virginia Woolf. Friedrich Nietzsche distanzierte sich von Wagner als Person, aber nicht von seinem Werk. Die Leidenschaft für Wagner nahm manchmal die Form von Fetischismus an. Judith Gautier behielt unter ihren Souvenirs von dem Komponisten ein Stück Brot, das Wagner am Tag der Parsifal-Uraufführung angebissen hatte.

Politisch bedingte Liebe zur Musik

Es gibt keinen anderen solchen Komponisten in der Geschichte, der so unterschiedlich verstanden wurde. Einige betrachteten ihn als typisch deutschen, pangermanischen, die anderen als einen kosmopolitischen Künstler. Die Anhänger der Rechten und der Linken, Anarchisten, Sozialisten, Feministinnen, Homosexuelle und sogar Umweltaktivisten hielten ihn für ihren Vorläufer. Die Vertreter völlig anderer und sogar gegensätzlicher Tendenzen versuchten ihn unter ihre eigene Ideologie zu bringen. Das Buch von Alex Ross ist voller konkreter Beispiele dafür. Man hat also den Eindruck, dass in Bezug auf Wagner eine Art mehrstufige interpretative Schizophrenie herrscht.

Wie im individuellen Fall, änderte sich das ständig ebenfalls im politischen Sinne. Die Art von Beziehung, die ein bestimmter Staat zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zu Deutschland hatte, bildete auch die offizielle Haltung gegenüber Wagners Werken. Dementsprechend wurden seine Opern in diesen Ländern aufgeführt oder verboten. Die Franzosen haben die Wertschätzung für den Komponisten nach dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges 1870 verloren. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 verschwanden  Wagners Opern von den Bühnen in der Sowjetunion und kehrten erst 1939 dorthin zurück, nach der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Nichtangriffspakts.

Richard Wagner, (c) wikipedia

Eigentlich war Wagner Pazifist und warnte selbst vor dem leichtsinnigen Einsatz von Waffen im Text von „Religion und Kunst“. Trotzdem rief seine Musik den Kampfgeist der Deutschen hervor. Er selbst revidierte seine politische Einstellung. Zuerst war er mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1871 zufrieden, aber dann enttäuschte ihn die neue Heimat, und er wandte sich wieder nach links.

Die meisten Mehrfachinterpretationen hat vor allem der „Parsifal“ gesammelt. In der Botschaft dieses Werks wurden sowohl christliche als auch satanische Elemente wahrgenommen. Der amerikanische Kritiker James Huneker schrieb, diese Oper sei eine Art „schwarze Messe“. Ronald Perlwitz suchte nach Verbindungen zum Sanskrit-Epos „Ramayana“, in dem man ein Kaninchen auf ähnliche Weise wie im „Parsifal“ einen Schwan tötete. Sowjetische Kommunisten hatten ein Problem mit dem christlichen Aspekt der Oper und deutsche Nationalsozialisten mit seinem Ethos des Mitleids. Am besten gefällt mir die Bemerkung des Kardinals Jorge Mario Bergoglio, seit 2013 Papst Franziskus, der – laut dem Autor des Buches – langjähriger Wagnerianer ist. Er interpretiert nämlich Klingsors Zaubergarten als Analogie zur zunehmenden Unbeweglichkeit und Selbsttäuschung der katholischen Kirche. (S. 725). Diese Oper inspirierte auch die Pioniere der Automobilindustrie; 1902 produzierte das Unternehmen Benz ein Fahrzeug mit dem Namen „Parsifal“.

Wenn man das Thema Wagner aufgreift, ist es unmöglich den Faden im Zusammenhang mit Antisemitismus, Nationalsozialismus und Holocaust zu ignorieren. Aber auch in diesem Fall ist nichts eindeutig. Einige Forscher halten die Behauptung vom Einfluss des Komponisten auf Hitler für übertrieben, andere für entscheidend. „Die Meistersinger…“ galt als die nationalsozialistischste Oper, besonders der Choral „Wach auf“ sowie der letzte Monolog von Hans Sachs.

Nicht alle Anhänger Hitlers teilten seine Bewunderung für Wagner. „In der Hitlerjugend galt Wagner teilweise als ungesund, übermäßig, sinnlich, pessimistisch und ohne nordische Reinheit”, schreibt Ross (S. 628). Er nennt einige Namen jüdischer Wagnerianer. Friedrich Eckstein pilgerte 1882 zu Fuß von Wien nach Bayreuth (450 km), um dort eine Vorstellung von Wagners Oper zu sehen. Heinrich York-Steiners schrieb die berührende Erzählung „Mendele Lohengrin”  über einen jüdischen Musiker aus einem österreichischen Dorf, der sich in die Musik von „Lohengrin“ verliebte und dann nichts anderes spielen wollte. Alex Ross beschreibt auch Arturo Toscaninis Rebellion gegen die antisemitische Politik der Festspielleiterin Winifred Wagner und über die Versuche von Zubin Mehta und Daniel Barenboim, Wagners Musik auf Bühnen in Israel wieder einzuführen.

Amerikanische und polnische Fäden

Der Autor des Buches „Die Welt nach Wagner“ ist amerikanischer Musikkritiker, also gab er einige interessante Beispiele, wie sich der Wagnerismus in seiner Heimat verbreitete. Er erzählt über die „Parsifal“- Uraufführung in der Metropolitan Opera 1903, die zwar erfolglos verlief, aber das Interesse der Theosophie-Bekenner weckte. In den USA förderten Wagners Schöpfung  vor allem die Gesellschaft Germania Musical Society und zwei Dirigenten: Theodore Thomas und Leopold Damrosch. Amerikaner hatten die Idee, ein zweites Festspielhaus in Milwaukee zu bauen. In den Nachkriegsjahren wurde Wagners Musik in Zeichentrickfilmen mit Bugs Bunny satirisch dargestellt. Und hier muss ich eine kleine Korrektur vornehmen: Bugs Bunny erscheint als Brünnhilde auf weißem Pferd nicht in „Hare meets Hare“ sondern in „What’s Opera Doc – Kill The Wabbit“. Bugs verkleidet sich als Walküre, um Elmer Fudd auf den Arm zu nehmen, der ihn in einem Siegfried-Kostüm verfolgt und zu töten versucht. Beim Anblick des verkleideten Kaninchens singt Elmer zu dem Pilgerchor von „Tannhäuser“: „Oh, Bwünnhilde, you’re so wowely!“

Festspielhaus Bayreuth. Foto: © Andreas Schmidt

Wenn Alex Ross sich mit der Entwicklung des Wagnerismus in jedem Land befasst hätte, müsste seine Publikation mehrere Bände umfassen. Allein das Thema „Wagner und Polen“ eignet sich für ein separates Buch. Und doch muss ich zwei Dinge zu den polnischen Beispielen hinzufügen, die er vorgestellt hat. Maria Kalergis war nämlich mehr als eine Pianistin, die Wagner „wie eine Närrin verehrte“. 1860 schenkte sie ihm zehntausend Franken, um das durch seine Konzerte in Paris  verursachte Defizit zu decken. Von ihrem Cousin Baron von Seebach erhielt Maria Kalergis für den Komponisten die Aufhebung des  Verbots seiner Rückkehr nach Deutschland vom Sächsischen König. Die aus Polen stammende Schauspielerin Helena Modjeska, die den Tempel des Friedens –Raya Yoga-Akademie – und das griechische Freilufttheater in Point Loma in Kalifornien als „zweites Bayreuth“ bezeichnete, hieß in Wirklichkeit „Modrzejewska“.  In dem Kapitel über Filme erwähnt der Autor Kazimierz Prószynskis „Walkirie“(1903), schreibt jedoch kein Wort über „Hi Diddle, Diddle“  von Andrew.L. Stone (1943) mit Pola Negri in der Rolle der Wagner-Sängerin Genya Smetana.

Richard Wagner – Büste. Quelle: Wikipedia (c)

Ross nennt jedoch den Namen eines polnischen Emigranten in Paris, Téodor de Wyzewa, der zusammen mit Edouard Dujardins und Houston Stewart Chamberlain (später Eva Wagners Ehemann) die Zeitschrift „Revue wagnérienne”  gründete. Wyzewa machte die Leser auf Wagners Beziehung zu Nietzsche aufmerksam. Im Buch gibt es auch Fragmente über Joseph Conrad (Józef Korzeniowski) und Wagners Motiven in seinen Romanen.

Die Leser haben die Wahl…

Der Autor erzählt chronologisch, er kehrt zu den Ereignissen und Personen zurück, die er zuvor signalisiert hat, um sie genauer zu präsentieren. Dadurch können die Leser viele Dinge besser behalten. Die Anekdoten dosiert Ross mit Bedacht, wie Gewürze, die einem Gericht Pikanterie verleihen. Als Karl Marx beispielweise, auf einer Reise nach Nürnberg in Bayreuth während der Festspiele übernachten wollte, fand er aber kein Hotelzimmer frei und musste die Nacht auf einer Bank am Bahnhof verbringen.

Und wenn ein Nicht-Wagnerianer nach diesem Buch greift? Vielleicht wird er unangenehm überrascht sein, dass der „Herr der Ringe“ von J.R.R. Tolkien, die „Star Wars“ von George Lucas und sogar „Die Chroniken von Narnia“  von Clive Staples Lewis ihren Prototyp in der Wagner-Tetralogie  „Ring des Nibelungen“ haben. Wahrscheinlich assoziierte er bisher seine Musik nur mit Bombenangriffen in dem Film „Apocalypse Now“  von Francis Fors Coppola, und „Lohengrin“ war für ihn der Soundtrack in „The Great Dictator“ von Charlie Chaplin? Oder kennt er nur den Hochzeitsmarsch aus dieser Oper? Und von so etwas wie „Afrowagnerismus“ hat er niemals gehört.

Zum Schluss behauptet Alex Ross, dass die Geschichte Wagners und des Wagnerismus uns die besten und die schlimmsten Eigenschaften des Menschen zeigt. Ich meine, das Werk des Komponisten platziert sich über allen Spaltungen, und jeder kann darin etwas für sich finden. Als mein eigenes Credo nehme ich die Aussage von Marcel Proust: „Je legendärer Wagner ist, umso menschlicher finde ich ihn.“

Der US-amerikanische Autor und Journalist Alex Ross.

Alex Ross, „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne.
Originaltitel „Wagnerism.“
Übersetzung aus dem Englischen: Gloria Buschor und Günter Kotzor
Deutsche Erstausgabe veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, 17. November 2020, 912 Seiten, 40 Euro (Kindle: 29,99 Euro)

2 Gedanken zu „Die Geschichte der Wagnerismus und seiner Anhänger, Alex Ross: „Die Welt nach Wagner. Ein deutscher Künstler und sein Einfluss auf die Moderne“
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  1. Wie schrieb Marcel Prawy einmal sinngemäß: „Unter den Wagnerianern war Wagner selbst wohl der angenehmste.“ Prawys Buch „Nun sei bedankt – Mein Richard-Wagner-Buch“ bei Schott erschienen, sieht zwar aus wie ein Buch über die Weihnachtsbäckerei, beinhaltet aber viele sehr interessante Aspekte und Dokumente.

    Hans-Jürgen Mende
    (Anmerkung: Mende ist der bekannteste deutsche Hörfunkmoderator, u.a. NDR Kultur)

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