Staatsoper Stuttgart, 13. November 2021
Foto: Hier wird Lukullus (Gerhard Siegel) der Prozess gemacht.
(c) Martin Sigmund
von Frank Heublein
An diesem Abend wird in der Staatsoper Stuttgart Die Verurteilung des Lukullus von Paul Dessau aufgeführt. Den Text steuert Berthold Brecht bei. Die Uraufführung der Oper kam 1951 in Berlin auf die Bühne.
Die Türen des Publikumsaals gehen nicht zu. Und eine Trauergesellschaft zieht links vom Parkett vorbei. Ich sehe es live und zugleich als Videobild auf der Bühne. Nach der Umrundung gelangt die Gesellschaft auf die Bühne. Am rechten vorderen Rand in Publikumreihe eins steht das Trautonium. Zugleich ist ein Übergang von Bühne und Publikumsraum, der an diesem Abend als Erweiterung des Spielraums genutzt wird.
Der Kameramann ist beständig auf der Bühne. Fokussiert Details. Diese werden per Video auf diverse Leinwände projiziert. Die Leiche des Lukullus wird hereingetragen. Ein vielschichtiger Trauerchor erhebt sich. Ein erster Eindruck der staccatoartigen Sprechgesänge, die ich in den folgenden 90 Minuten hören werde. Sie sind eher von der Musik getrieben als von ihr unterstützt. Sängerisch ist das extrem anspruchsvoll, da dies alles auskomponiert ist. Die Partitur ist zum Teil gegen den normalen Sprachrhythmus angelegt.
Die Musik bleibt dabei tonal, ist jedoch rhythmisch gebrochen. Stellt meine Hörgewohnheiten andauernd in Frage. Drängend, effektvoll, mit selten gehörten spannenden Klangfarben ist sie unglaublich kontrastreich. Diese Hör-Entdeckungen schenken mir musikalisch alle Aufführenden im Graben wie auf und um der Bühne herum. Chapeau!
Die Orchesterbesetzung ist außergewöhnlich. Eine der wenigen Oper, in der ein Trautonium eingesetzt wird – es gibt vier laut dem einzigen Spieler des Instruments Peter Pichler*. Ein Akkordeon. Keine Geigen und Bratschen, nur Celli und Kontrabässe. Neun Schlagwerker, die Partitur fordert: acht Pauken, eine große Trommel, dazu eine mit aufgeschnalltem Becken, eine Rührtrommel, eine Militärtrommel, drei verschiedene Tomtoms, ein großes Tamtam, drei verschiedene Gongs, zwei Xylophone, Glockenspiel, verschiedene Tempelblöcke, verschiedene Stahlplatten, einen mittelgroßen Amboss, einen größeren Stein auf eine möglichst hoch gestimmte Stahlplatte und drei Marimbaphone. Dazu gesellen sich im Orchestergraben ein Konzertflügel, zwei – präparierte – Klaviere, Flöte, Harfe und Blechbläser. Letztere stehen im Trauermarsch auf der Bühne, stellen Rollen dar und das mächtige Bläserforte setzt sich so stärker ab vom Schlagwerk, dass ich aus dem Graben höre.
Lukullus, der gerade gestorbene erfolgreiche römische Feldherr ist auch als Toter, im Stück Schatte genannt, ganz der Chef. Vor den Türen des Schattenreichs mag er nicht warten. Mit den ersten Tönen durchdringt mich Tenor Gerhard Siegel. Er sticht stimmlich heraus. Dynamisch, herrisch, fordernd. Seine Dominanz als erfolgreicher Feldherr drückt er stimmlich prägnant aus. Gerhard Siegel beeindruckt mich in seiner großartigen stimmlichen Präsenz, die sofort jede Faser in mir auf ihn konzentriert.
Die guten Tipps der alten Frau Tertullia, die mit ihm wartet, verhallen. So überzeugt ist Lukullus von sich und seiner Lebensleistung. Er kommt vor das Totengericht, das entscheidet, ob er in die Hölle oder den Himmel kommt. Auf der Bühne illustriert mit einer Leuchttafel, die zwischen „Hell“ (Hölle) und Heil hin und her springt.
Es ist eine Oper der musikalischen Massen. Anfangs die Trauergesellschaft, dann tote Soldaten, Kriegsopfer, die Schatten aus dem Totenreich. Kompositorisch geschickt schälen sich daraus einzelne Stimmen, die die Lebensleistung des Lukullus aus ihrer Sicht darstellen. Auf der Bühne geht es an einigen Stellen richtig eng zu, das volle Ausmaß wird mir erneut beim Schlussapplaus vor Augen geführt.
Lukullus wird aufgefordert, seine Lebensleistung darzulegen. Er bezieht sich auf das Totenfries, das seine Taten preist. Die Totenschöffen, das Fischweib, die Kurtisane, der Lehrer, der Bäcker und der Bauer weisen den Totenrichter an, die Personen auf dem Fries als Zeugen zu hören.
Alina Adamski als Königin singt ihr Schicksal eindringlich, mit klarem unschuldigen Sopran, der das Geschändet- und Geschunden-Werden der fünfzig Soldaten, die über sie herfallen, mich in diesem Moment tief berührt und emotional fassungslos werden lässt.
Von den eroberten Städten wissen auch Kinder zu berichten, dass Lukullus sie dem Erdboden gleich machte. Die Solistinnen und Solisten des Kinderchors zeigen feinstimmige zugleich klare Präsenz. Ich höre mit gespitzten Ohren und meine zu spüren, dass der ganze Saal es ebenso macht wie ich. Die weiche zarte Zerbrechlichkeit der Kinder, die der Gewalt der Legionäre des Lukullus nichts entgegenzusetzen haben.
Es gibt einen Hauch Fürsprache. Vom Koch des Lukullus Lasus, der kochend entdecken durfte. Genau deshalb haben wir heutzutage lukullische Freuden, von diesem Feinschmecker handelt die Oper. Auch der Kirschbaumträger lobt Lukullus, der die Kirsche vom Osten in den Westen importierte.
Doch die Kurtisane rückt ins rechte Licht: 80.000 Tote für einen Kirschbaum? Dynamisch entschieden wuchtig singt Mezzosopran Deborah Saffery. Plädiert als erste der Schöffen für den Hinabwurf Lukullus in den Hades. Die musikalische Wucht in mir vergrößert sich, indem immer mehr Stimmen dem Urteil zustimmen. Am Ende singt die stimmliche Masse, Chor, fast alle Solisten auf der Bühne skandierend „Ins Nichts mit ihm und ins Nichts mit allen wie er!“
Je länger die Oper dauert, desto weniger hat Lukullus zu sagen, zu singen. Je mehr ihm klar wird, das seine Sichtweise nur eine ist und die entgegengestellte, dass er Leid, Tod und Verzweiflung in die Menschheit gebracht hat, eine viel stärkere, desto mehr versinkt er in Stummheit. Seine in seiner Stimme vermittelte Dominanz – die Partitur fordert einen Heldentenor – bringen die gerechten bodenständigen Totenschöffen zum Schweigen.
Dirigent Bernhard Kontarsky treibt das Staatsorchester Stuttgart zu einer andauernden spannungsgeladenen Präsenz, die wuchtig und emotional Bestandteil der Handlung ist, sie treibt und weniger deren musikalische Paraphrasierung oder Unterlegung ist.
Welch eindrucksvoller und ja, Herr Brecht, lehrreicher! Abend. Ihr lehrstückhafter Ansatz wird mir durch die Musik Dessaus emotional eingebrannt. Das war bestimmt Ihrer beiden Intention. Die Stimme der Schwachen, der Überfallenen präsentieren spätestens im Totenreich den Eroberungskriegern die Rechnung. Zur Ihrer Zeit der Entstehung tobte der Koreakrieg. Ihr künstlerischer Kommentar hat in heutiger Zeit schauderhafter Weise an Aktualität nichts verloren.
*: Neben dieser Oper gibt es drei Opern mit Trautonium. Paul Dessau hat mit Brecht 1943/44 zusammengearbeitet am Antikriegs-Oratorium „Deutsches Miserere“. Mit Johannes R. Becher entstand vom selben Komponisten „Der Weg nach Füssen“. Und Carl Orffs erste Fassung seiner Entrata ist ebenfalls mit Trautonium komponiert. In der späteren Fassung ersetzte der Komponist das Instrument durch die Orgel. Entdeckungen, die meiner harren.
Frank Heublein, 14. November 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Die Verurteilung des Lukullus von Paul Dessau, Text von Berthold Brecht.
Besetzung
Musikalische Leitung Bernhard Kontarsky
Konzept Hauen und Stechen
Regie Franziska Kronfoth, Julia Lwowski
Bühne Christina Schmitt
Kostüme Yassu Yabara
Video Martin Mallon
Licht Benedikt Zehm
Chor Manuel Pujol
Kinderchor Bernhard Moncado
Dramaturgie Miron Hakenbeck, Julia Schmitt
Lukullus, römischer Feldherr Gerhard Siegel
Friesgestalten:
Der König Friedemann Röhlig
Die Königin Alina Adamski
Zwei Kinder Soli des Kinderchors der Staatsoper Stuttgart
Zwei Legionäre Gerard Farreras, Jorge Ruvalcaba
Lasus, Koch des Lukullus Torsten Hofmann
Der Kirschbaumträger Elliott Carlton Hines
Totenschöffen:
Das Fischweib Maria Theresa Ullrich
Die Kurtisane Deborah Saffery
Der Lehrer Philipp Nicklaus
Der Bäcker Heinz Göhrig
Der Bauer Jasper Leever
Tertullia Cheryl Studer
- Ausruferin / 1. Frauenstimme Alina Adamski
- Ausruferin / 2. Frauenstimme Laia Vallés
- Ausruferin / 3. Frauenstimme Clare Tunney
Eine kommentierende Frauenstimme Gina-Lisa Maiwald
Der Totenrichter Simon Bailey
Sprecher des Totengerichts Martin Gerke
Akkordeon Ulrich Schlummberger
Trautonium Peter Pichler
Kinderchor der Staatsoper Stuttgart
Staatsopernchor Stuttgart
Staatsorchester Stuttgart
Philippe Béziat, Les Indes galantes <br< Hofer Filmtage, 29. Oktober 2021