Wiener Staatsoper, 20. Juni 2020:
Ensemblemitglieder singen Ausschnitte aus deutschsprachigen Werken
Was durch Jahrzehnte Abend für Abend von Opernbesuchern als ganz normal registriert wird, wird jetzt, bei den orchesterlosen Auftritten unserer Sänger plötzlich als etwas Außergewöhnliches erlebt: die Stimmkraft, die ein so großes Haus verlangt – und geboten bekommt.
von Dr. Sieglinde Pfabigan
Gleich zu Beginn zuckte man zusammen, als Wolfgang Bankl mit „Hereinspaziert in die Menagerie“ aus Alban Bergs „Lulu“ seine mächtige Stimme erhob und mit Beckenschlag und Trommelwirbel unterstrich, was er uns zu sagen gedachte – als Tierbändiger, der sich an „Ihr stolzen Herren, Ihr lebenslust‘gen Frauen/ Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen…“ wandte. Teils gesprochen, teils gesungen, beides wohldifferenziert und jedes grausame Wort auskostend, mit lüsterner und zugleich aggressiver Mimik, der man entnehmen konnte, dass es ihm Vergnügen bereitete. Richtig zum Fürchten war diese Stimmgewalt, die wohl bewusst nicht mit versuchtem Wohlklang herüberkam – von der Vorderbühne ins dürftig besetzte Parkett.
Dieser Anfang bewirkte, dass man für den restlichen Abend kein sanftes Schlummern erwartete. So erschien denn auch, nachdem das aufgerüttelte Publikum diesem als vielfältigen Rolleninterpreten bewunderten Ensemblemitglied heftigen Beifall gezollt hatte, von der gegenüberliegenden Bühnenseite Stephanie Houtzeel, während deren Solo der „Tierbändiger“ rechts im Hintergrund stehen blieb. Der großgewachsenen, feschen, schlanken Mezzosopranistin würde man auf den ersten Blick feine Damen der Gesellschaft als Standardrollen zuschreiben. Aber wir wissen es längst besser: Da ist seit dem Jahr 2010 von der Rheintochter bis zum Rosenkavalier, von Händels Ariodante bis zu Mozarts Dorabella, vom Prinzen Orlowsky bis zu Reimanns Kreusa („Medea“) wirklich alles drinnen, mit permanent sich steigernder Stimmkraft und Spielintensität. Diesmal war sie der Komponist aus „Ariadne“ mit „Sein wir wieder gut“, kulminierend in „Musik ist eine heilige Kunst“ mit schöner, voller Stimme, sicher ganz im Sinne von Richard Strauss, überzeugend dargebracht. Da regte sich kein Widerspruch!
Der Text der folgenden „ Freischütz“-Arie „Wie nahte mir der Schlummer“ war gleichsam eine Bestätigung des vermuteten Sachverhalts zwischen Bühne und Publikum. Olga Bezsmertna konnte das allein schon durch ihre offenbar mühelos eingesetzte Stimmkraft bestätigen. Mit ihrem Gesang, basierend auf wohlfundierter Technik, reussiert sie in den unterschiedlichsten Rollen, vor allem im slawischen und italienischen Repertoire. Webers wunderbare Arie der Agathe, die zu nächtlicher Stunde auf ihren Max wartet, war sicher eine lang gehegte Wunschnummer der Sängerin, die sie genussvoll auskostete. Das einzige, was fehlte, war ein spezifischeres, verinnerlichten Ausdruck ermöglichendes Timbre, das idealerweise der Weberschen Orchestersprache angepasst sein sollte – „Oh wie hell die goldnen Sterne mit wie reinem Glanz erblühn...“ – da konnte auch der Pianist Anton Ziegler das Orchester nicht ersetzen. Ab „All meine Pulse schlagen“ vermochten dann beide Künstler mit der nötigen Dramatik zu überzeugen.
Von der Träumerei kehrten wir alle schnell in den Theateralltag zurück, als Ildiko Raimondi, Herbert Lippert und Jörg Schneider ein sicherlich selten in Konzerten dargebotenes „Fledermaus“-Trio brachten. Aus dem 3.Akt: Ildiko Raimondi, normalerweise eine entzückende Adele, diesmal als Rosalinde zwischen dem vermeintlichen Dr. Blind, der aber bereits in Gestalt von Herbert Lippert zum Eisenstein mutiert war und sich ein Buch vors Gesicht hielt, um nicht sofort als ihr empörter Ehemann erkannt zu werden, und dem tenoralen Belcantisten Alfred mit der wunderbaren Stimme von Jörg Schneider: „Ich stehe voll Zagen...“ – verständlich! Und alles köstlich! Die drei Erzkomödianten konnten sich voll ausleben, vokal und physisch, und diesseits der Rampe amüsierete man sich ebenso königlich.
Der Ernst des Opernlebens kehrte zurück mit Tannhäusers würdigem, baritonalem Gegenspieler beim Wartburgtreffen. So perfekt Samuel Hasselhorn ein paar Tage zuvor den Marquis Posa gesungen hatte, so sicher bewältigte er auch den noblen Wolfram. Aber wenn man vor einem leeren Haus mit lediglich ein paar verstreuten Eindringlingen ins Parkett zu singen hat: „Blick ich umher in diesem edlen Kreise“ und dabei nicht umher, sondern höchstens gerade nach vorne blicken kann – das nimmt diesem Text und dieser genialen Melodik einfach die Magie. (Auch wenn die Sänger von der Bühne aus, schon aus Beleuchtungsgründen, normalerweise das Publikum auf den 4 Rängen nicht ausnehmen können, bleibt das Gefühl, dass die empfangsbereiten Menschen da sind.)
Richard Strauss wusste danach mit anderen Mitteln die Verbindung zwischen hüben und drüben zu perfektionieren. Drastischer als durch die Wahl des Judenquintetts aus „Salome“ hätte das kaum gelingen können. Da kam endlich Anton Ziegler ausreichend zum Zug, indem er das fast immer in dieser Szene zu laute Orchester mit nur 10 Fingern auf den Tasten des Bösendorfers ersetzte. Jörg Schneider undStephanie Houtzeel vergnügten sich als Herodes und Herodias mit „Heiß‘ ihn schweigen!“ (nämlich den hier nicht präsenten Jochanaan) und dann begannen die fünf Juden, die Tenöre Thomas Ebenstein, Leonardo Navarro, Lukhanyo Moyake und Benedikt Kobel und der Bass Ryan Speedo Green, zuletzt noch assistiert von Ayk Martirossian als Erster Nazarener, ihr lautstarkes Gezeter, wer aller Gott gesehen hat oder nicht…In dieser Formation ein aufregnder Spaß.
Schöner freilich geriet nicht nur, sondern ist das Duett „Mir ist die Ehre widerfahren“ – die Rosenüberreichung Octavians an Sophie, sowohl von Rachel Frenkel als auch von Hila Fahima mit delikater Belcanto-Hingabe gesungen. Und nach so viel Lyrik gab es dann das muntere „Lieben, Hassen, Hoffen, Zagen“ aus „Ariadne“ vonseiten der 4 Komödianten (plus Echo: Lydia Rathkolb) Rafael Fingerlos, Jinxu Xiahou, Pavel Kolgatin und Peter Kellner, gefolgt von Ariadnes großer Arie „Es gibt ein Reich“, effektvoll vorgetragen mit breitem Atem von der stimmgewaltigen Regina Hangler. Das Fünkchen Theatralik , das dazu gehört, fehlte auch nicht. Nicht zufällig endete der Abend mit Zerbinettas ebenso virtuoser wie gefühlvoller Bravourarie „Großmächtige Prinzessin“, deren Vortrag Daniela Fally inmitten der durchwegs hochwertigen anderen Ensemblemitglieder des Hauses zum unbestreitbaren Star des Abends machte. Die vokale Brillanz, der Charme der Sängerin und die Bewältigung all der vielen Zwischentöne dieses langen Solos ließen das scherzhafte, dennoch herzhafte pianissimo- Ende „Hingegeben war ich stumm!“ fast als – allerdings liebenswürdige – Ironie erleben.
Hingegeben waren alle, ja, die für die Bühne und ihre Aussagekraft Lebenden und nach ihr Dürstenden dies- und jenseits des – verdeckten – Orchestergrabens.
PS: Dass die wenigen Anwesenden im Parkett nach Ende der Bühnengeschehnisse zwar noch applaudieren, aber keine Minute länger im Saal verweilen dürfen, um etwa noch Gedanken auszutauschen, kann keiner serösen Überlegung der Direktion zugeschrieben werden. Dass sich in ein bis zwei Minuten womöglich noch jemand mit dem Corona-Virus ansteckt? Wer weiß….
Sieglinde Pfabigan (onlinemerker.com), 21. Juni 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at