Die English National Opera inszeniert Korngolds „Die tote Stadt“ als Spukgeschichte im Stil von Hitchcock und Edgar Allan Poe

Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt  ENO English National Opera, 28. März 2023

Foto: Erich Wolfgang Korngold, 1916. AKG-Images

Die tote Stadt – das Meisterwerk und die einzige nachhaltig erfolgreiche Oper des erst 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold ist in England kaum bekannt. Korngolds seinerzeit in ganz Europa gefeiertes und dann, aufgrund der antisemitischen NS-Kulturpolitik im Deutschen Reich verbotenes und damit nahezu in Vergessenheit geratenes (erst 1955 in München wieder aufgeführtes) Jugendwerk wurde in England erst drei Mal aufgeführt, zuletzt im letzten Sommer 2022 im Rahmen des ländlichen Longborough-Festivals (siehe unsere Kritik in „Klassik begeistert“) aufgeführt und hat jetzt ebenso erfolgreich den Sprung auf die größte Bühne der Themsemetropole London, das Coliseum, geschafft:

Die English National Opera ENO hat sich jetzt erstmals an Korngolds in vieler Beziehung anspruchsvolle, ja schwierige Oper gewagt. Das Werk mit seinen spukhaften Fantasien und Träumen lässt an Freuds in jener Zeit aufgekommene Psychoanalyse, an dessen Theorien über Träume und Unterbewusstsein denken, aber auch an den berühmtesten englischen Erfinder von Spukgeschichten, Edgar Allan Poe und vor allem an den Filmregisseur Alfred Hitchcock: Sein Film „Vertigo“ soll von dem Roman des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach inspiriert sein, dessen Werk „Bruges-la-morte“ (1892) auch Korngold zu seiner „Toten Stadt“ inspirierte. Nicht zu vergessen, dass das Libretto gemeinsam mit Erich Wolfgang Korngolds ambitiösem Vater Julius, dem gefürchteten Musikkritiker der „Neuen Freien Presse“, der unter dem Pseudonym Paul Schott schrieb, verfasst wurde.

Die legendäre Sopranistin Maria Jeritza, welche die Marie mit großem Erfolg in Wien gesungen hatte, nahm diese Rolle für ihren ersten Auftritt an der Met 1921 mit nach New York. Diese erste Produktion der Oper durch die ENO stellt sich erfolgreich den inszenatorischen und vor allem musikalischen Herausforderungen des Werkes: Ein riesiges Orchester von fast Wagner’schen oder Richard Strauss’schen Dimensionen und vor allem die extremen sängerischen Leistungen der Sopranistin (Marietta) und des Tenors (Paul), der ununterbrochen auf der Bühne präsent ist und eine überaus schwierige Partie zu meistern hat.


Erich Wolfgang Korngold, The Dead City – Die tote Stadt

ENO English National Opera, 28. März 2023

von Dr. Charles Ritterband

Die irisch-britische Regisseurin, Annilese Miskimmon, die künstlerische Direktorin der ENO, verstand es meisterhaft, die im Roman  Rodenbachs und in Korngolds Oper evozierte morbide und surreale Atmosphäre auf die Bühne zu bringen. Anders als in anderen Inszenierungen ließ sie Paul nicht als „Stalker“ Marietta, die Doppelgängerin seiner verstorbenen Marie, durch die Straßen der „sterbenden Stadt“ verfolgen – im Gegenteil dringt Marietta in Pauls Intimsphäre ein, in den geheiligten Raum des Museums mit Reliquien (vor allem den abgeschnittenen blonden Zopf in einer Glasvitrine) und zahlreichen Erinnerungsstücken (ihre Schuhe, ihr weißes Kleid), eine Art Kapelle der Madonnen-Anbetung. Die ENO hat keinen Aufwand gescheut und die führenden Spezialisten des Londoner West End im Produzieren von Theater-Nebel aufgeboten, um die düster-neblige Atmosphäre der „Toten Stadt“ Brügges in Pauls prachtvollen Museums-Kapellen-Raum zu holen, dessen Läden auf seine Anordnung hin stets geschlossen bleiben müssen, um sich hier von der Realität der Aussenwelt hermetisch abzukapseln.

In dieser künstlichen Innenwelt tanzt die stets nette aber naive und (in krassem Gegensatz zur fragil und ernst wirkenden „toten“ Marie) oberflächlich-frivole ihre Szene aus der damals hoch modischen Oper Meyerbeers „Robert le Diable“, in der sie als ziemlich mittelmäßige Tänzerin auftritt – sekundiert von einer Art „Tanz der Vampire“, bestehend aus Nonnen, die in erotischer Aufmachung mit hautengen schwarzen Tricots und engen Straps an den Netzstrümpfen aus dem Friedhof eines in Ruinen liegenden Klosters entwichen sind. Das Morbide vermischt sich in dieser Inszenierung mit dem Grotesken, die inneren Kämpfe Pauls zwischen sexuellen Fantasien (ausgerichtet auf die lebende Marietta) und Schuldgefühlen (gegenüber der toten Marie) spielen sich ab inmitten der gespenstischen Orgien von Mariettas Entourage. Realität, Traum und Phantasien, Leben und Tod fließen hier untrennbar ineinander über: „Die tote Frau, die tote Stadt, flossen zu geheimnisvollem Gleichnis“ sinniert Paul.  Als weiße Spukgestalt aufersteht die verstorbene Marie, stellt sich zwischen Paul und die quicklebendige, lebenslustige Marietta, schwebt auf dem Totenbett von der Decke herab – die makabren Fantasien von Edgar Allan Poe und die schier unerträgliche Spannung in Hitchcocks Filmen standen unverkennbar Pate bei dieser gelungenen  Inszenierung. Diese erinnert an einen frühen Hollywood-Film, der da vor unseren Augen auf der gigantischen Bühne des London Coliseum abrollt; eine Anspielung vielleicht an Korngolds Laufbahn als gefeierter Hollywood-Filmkomponist nach seiner Emigration in die USA.

Der Schweizer Tenor Rolf Romei hat als Paul ein schier unglaubliches Pensum zu bewältigen – permanent auf der Bühne zu stehen und stimmlich extreme Höhen wie Tiefen zu bewältigen. Bisweilen – selten –  kam Romei dabei an seine Grenzen; der Vergleich etwa mit Jonas Kaufmann in dieser Rolle fiel doch eher zu Romeis Ungunsten aus. Dennoch erwies sich dieser Tenor als kongenialer Partner, stimmlich und schauspielerisch, gegenüber der Marietta von Allison Oakes – ihr berühmtes Duett „Glück, das mir verblieb“, für viele Opernfreunde das bekannteste Musikstück dieser immer noch weitgehend unbekannten Oper, war denn auch in perfekter Harmonie dieser beiden Stimmen unbestreitbar der Höhepunkt dieser Aufführung, zu dem Romei in Hochform auflief. Die englische Sopranistin Oakes hatte ebenso wie ihr Partner Romei in der Rolle des Paul enorme stimmliche und szenische, aber auch darstellerische Herausforderungen zu bewältigen, denn auch sie hatte durchgehend Bühnenpräsenz zu markieren – die Rolle der Marietta erfordert eine Stimmstärke, wie sie sonst in Wagner- und Strauss-Opern gefordert wird. Getragen von stimmlicher Wärme und Geschmeidigkeit des norwegischen Baritons Audun Iversen als Franz; „Mein Sehnen, mein Wähnen“ war hinreißend schön und wurde zum zweiten, nicht geringeren Höhepunkt des Abends außer dem Duett Paul/Marietta.

Das erweiterte Orchester der English National Opera unter der Stabführung des ukrainischen Dirigenten Kirill Karabits intonierte Korngolds Musik mit Sensibilität, kraftvollen Akzenten und präzisen Einsätzen.

Dr. Charles Ritterband, 1. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Besetzung:

Regie: Annilese Miskimmon
Dirigent: Kirill Karabits
Bühnenbild: Miriam Buether
Paul: Rolf Romei
Marietta / Stimme der Marie: Allison Oakes
Franz (Pauls Freund): Audun Iversen
Brigitta (Hausangestellte von Paul): Sarah Connolly
Marie (stumme Rolle): Lauren Bridle

 

Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt Longborough Festival Opera, 27. Juni 2022

Erich Wolfgang Korngold „Die tote Stadt“, Wiener Staatsoper,  11. Februar 2022

CD-Rezension: Korngold, Die tote Stadt, klassik-begeistert.de

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