Die English National Opera fasziniert mit „Blue“ – einer hochpolitischen Oper zu „Black Lives Matter“

Ein hoch aktuelles und somit hochpolitisches Werk: Musikalisch ansprechend, thematisch fesselnd. „Blue“ ist die Geschichte eines jungen Schwarzen, pikanterweise Sohn eines Polizisten, der als Teilnehmer an einer gewaltfreien Demonstration von einem weißen Polizisten erschossen wird (ohne dass dieser vor Gericht kommt): „Black Lives Matter“ als Oper


Janine Tesori (Libretto Tazewell Thompson), “Blue”
English National Opera ENO, 4. Mai 2023

Britische Uraufführung

Orchester der English National Opera
Dirigent: Matthew Kofi Waldren

Regie: Tinuke Craig

Bühne/Kostüme: Alex Lowde
Licht: James Farncombe
Ton: Yvonne Gilbert

Die Mutter: Nadine Benjamin
Der Vater: Kenneth Kellogg
Der Sohn: Zwakele Tshabalalari

von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

 Ein Werk wie man es in dieser erschütternden Eindringlichkeit und Realitätsnähe selten, ja wohl nie zu sehen bekommt: Sängerisch hervorragend, musikalisch höchst beachtlich und in der technisch vollkommenen und zugleich ästhetisch perfekten Inszenierung – schlicht atemberaubend. „Janine Tesori (Libretto Tazewell Thompson), “Blue”
English National Opera ENO, 4. Mai 2023“
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Die English National Opera inszeniert Korngolds „Die tote Stadt“ als Spukgeschichte im Stil von Hitchcock und Edgar Allan Poe

Foto: Erich Wolfgang Korngold, 1916. AKG-Images

Die tote Stadt – das Meisterwerk und die einzige nachhaltig erfolgreiche Oper des erst 23-jährigen Erich Wolfgang Korngold ist in England kaum bekannt. Korngolds seinerzeit in ganz Europa gefeiertes und dann, aufgrund der antisemitischen NS-Kulturpolitik im Deutschen Reich verbotenes und damit nahezu in Vergessenheit geratenes (erst 1955 in München wieder aufgeführtes) Jugendwerk wurde in England erst drei Mal aufgeführt, zuletzt im letzten Sommer 2022 im Rahmen des ländlichen Longborough-Festivals (siehe unsere Kritik in „Klassik begeistert“) aufgeführt und hat jetzt ebenso erfolgreich den Sprung auf die größte Bühne der Themsemetropole London, das Coliseum, geschafft:

Die English National Opera ENO hat sich jetzt erstmals an Korngolds in vieler Beziehung anspruchsvolle, ja schwierige Oper gewagt. Das Werk mit seinen spukhaften Fantasien und Träumen lässt an Freuds in jener Zeit aufgekommene Psychoanalyse, an dessen Theorien über Träume und Unterbewusstsein denken, aber auch an den berühmtesten englischen Erfinder von Spukgeschichten, Edgar Allan Poe und vor allem an den Filmregisseur Alfred Hitchcock: Sein Film „Vertigo“ soll von dem Roman des belgischen Symbolisten Georges Rodenbach inspiriert sein, dessen Werk „Bruges-la-morte“ (1892) auch Korngold zu seiner „Toten Stadt“ inspirierte. Nicht zu vergessen, dass das Libretto gemeinsam mit Erich Wolfgang Korngolds ambitiösem Vater Julius, dem gefürchteten Musikkritiker der „Neuen Freien Presse“, der unter dem Pseudonym Paul Schott schrieb, verfasst wurde.

Die legendäre Sopranistin Maria Jeritza, welche die Marie mit großem Erfolg in Wien gesungen hatte, nahm diese Rolle für ihren ersten Auftritt an der Met 1921 mit nach New York. Diese erste Produktion der Oper durch die ENO stellt sich erfolgreich den inszenatorischen und vor allem musikalischen Herausforderungen des Werkes: Ein riesiges Orchester von fast Wagner’schen oder Richard Strauss’schen Dimensionen und vor allem die extremen sängerischen Leistungen der Sopranistin (Marietta) und des Tenors (Paul), der ununterbrochen auf der Bühne präsent ist und eine überaus schwierige Partie zu meistern hat.


Erich Wolfgang Korngold, The Dead City – Die tote Stadt

ENO English National Opera, 28. März 2023

von Dr. Charles Ritterband

Die irisch-britische Regisseurin, Annilese Miskimmon, die künstlerische Direktorin der ENO, verstand es meisterhaft, die im Roman  Rodenbachs und in Korngolds Oper evozierte morbide und surreale Atmosphäre auf die Bühne zu bringen. Anders als in anderen Inszenierungen ließ sie Paul nicht als „Stalker“ Marietta, die Doppelgängerin seiner verstorbenen Marie, durch die Straßen der „sterbenden Stadt“ verfolgen – im Gegenteil dringt Marietta in Pauls Intimsphäre ein, in den geheiligten Raum des Museums mit Reliquien (vor allem den abgeschnittenen blonden Zopf in einer Glasvitrine) und zahlreichen Erinnerungsstücken (ihre Schuhe, ihr weißes Kleid), eine Art Kapelle der Madonnen-Anbetung. Die ENO hat keinen Aufwand gescheut und die führenden Spezialisten des Londoner West End im Produzieren von Theater-Nebel aufgeboten, um die düster-neblige Atmosphäre der „Toten Stadt“ Brügges in Pauls prachtvollen Museums-Kapellen-Raum zu holen, dessen Läden auf seine Anordnung hin stets geschlossen bleiben müssen, um sich hier von der Realität der Aussenwelt hermetisch abzukapseln. „Erich Wolfgang Korngold, Die tote Stadt
ENO English National Opera, 28. März 2023“
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Die English National Opera setzt groteske Akzente in ihrem „Rhinegold“

Es ist eben “The Rhinegold” und nicht „Das Rheingold“, was die English National Opera ENO auf die Bühne des spektakulären London Coliseum brachte: Es ist nicht nur die konsequente Weiterführung der ENO-Tradition, sämtliche Opern in englischer Übersetzung (und nicht wie die nahegelegene Royal Opera in Originalsprache) aufzuführen. Die ENO präsentiert uns hier eine eigenwillige, schrille, aber auch unbestreitbar humorvolle Interpretation des „Vorabends“ von Wagners „Ring“-Tetralogie. John Deathridge, der höchst kompetente Übersetzer dieses Werkes ins Englische, stellt denn auch im Programmheft fest: „Rheingold“ ist zugleich Farce und Tragödie. Diese Neuinszenierung des vielfach preisgekrönten Star-Regisseurs Richard Jones wird beidem gerecht – dem grotesk-komischen und dem immens tragischen dieser Oper. Musikalisch ausgezeichnet nicht nur die (allerdings etwas temperamentlose) Stabführung des Musikdirektors der ENO, Martyn Brabbins, mit dem bewährten ENO Hausorchester, sondern auch die stimmlichen Leistungen. Geradezu atemberaubend der abgrundtiefe Bass-Bariton des Kanadiers John Relyea (Wotan), berückend der amerikanische Tenor Frederick Ballentine – um hier eingangs nur zwei der durchwegs ausgezeichneten Sänger dieser Produktion zu erwähnen.

Richard Wagner “The Rhinegold” (Text und Musik)
Englische Übersetzung: John Deathridge

English National Opera, 4. März 2023


von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

Dass diese Inszenierung nicht wie sonst immer mit dem zutiefst unheimlichen, aus dem Nichts, dem Dunkel, den Urtiefen des Schöpfungsaktes kommenden und langsam anschwellenden E-Moll-Akkord beginnt, sondern mit einem kurzen, dreiteiligen szenisch-stummen Vorspiel, war arg gewöhnungsbedürftig: Man sieht einen erst nackten, dann zunehmend wie ein steinzeitlicher Urmensch in Fell gekleideten Mann, der sich an einem Baum zu schaffen macht – je mehr der Mann zum zivilisierten, bekleideten Wesen wird, desto mehr wird der Baum zerstört. Was sich offenbar hier noch vor Beginn der eigentlichen Handlung abspielt, ist das Abschneiden des Astes von der Weltesche (die daran zugrunde geht), aus dem Wotan seinen so bedeutsamen Speer verfertigt. Das ist zweifellos eine Idee – aber sie vermindert leider den genialen Effekt des Beginns, so wie ihn Wagner gewollt und komponiert hatte. Das Publikum honorierte den (gründlich misslungenen) Regieeinfall mit höhnischem Gekicher – ein sehr deutliches Verdikt der Zuschauer. „Richard Wagner “The Rhinegold“ englische Übersetzung: John Deathridge
English National Opera, 4. März 2023“
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"Madam Butterfly" beindruckt an der English National Opera: ein ästhetisch vollkommenes Gesamtkunstwerk

English National Opera, 29. Februar 2020, Wiederaufnahme, Co-Produktion mit der Metropolitan Opera New York
Giacomo Puccini, Madam Butterfly
Foto: ENO.org (c)

von Charles E. Ritterband

Der Zufall wollte es, dass ich unmittelbar vor der Vorstellung der English National Opera ENO im London Coliseum der Eröffnung einer großartigen Ausstellung zum japanischen Kimono im Victoria and Albert Museum beiwohnte. In keiner Produktion der Madam Butterfly, die ich je an diversen Opernhäusern von Buenos Aires bis Wien erleben durfte, kommen farbenprächtige Kimonos, kommt die so ganz besondere japanische Ästhetik derart großartig zum Ausdruck wie in dieser gefeierten Co-Produktion der ENO mit der New Yorker MET aus dem Jahre 2006, eine Regiearbeit des zwei Jahre später verstorbenen britischen Film- und Theaterregisseurs Anthony Minghella: ein Gesamtkunstwerk!
„Giacomo Puccini, Madam Butterfly,
English National Opera, 29. Februar 2020“
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Ein Londoner Taxi im Olymp, #metoo in der Unterwelt und viele Luftballons: Offenbachs "Orpheus" in der English National Opera

Tatsächlich war diese ENO-Inszenierung mehr als nur „politically correct“ – sie war penetrant. Mit dem Seziermesser hat sie den von ihr offenbar im historisch-politschen Kontext der Ära Offenbachs nicht restlos verstandenen feinen Humor des Altmeisters Offenbach klinisch entfernt und diesen durch eine einzige Botschaft ersetzt: Euridice als hilfloses Opfer in einer bösen, sexbesessenen Männerwelt.

Foto: English National Opera © Clive Barda
English National Opera,
28. November 2019
Jacques Offenbach, Orpheus in the Underworld

von Charles E. Ritterband

Die English National Opera lancierte im November vier eigenwillige und in jeder Beziehung höchst unterschiedliche Projekte zum Thema „Orpheus“. An dieser Stelle bereits besprochen wurde Glucks „Orpheus and Eurydice“ – eine nicht vollkommen gelungene Mischung aus Oper und (modernem) Ballett unter Zitierung des britische Künstlers Damien Hirst mit Euridices Leiche in einer Glasvitrine. Ein wahres Feuerwerk aus Kostümen, deren farbenprächtige Üppigkeit mehr an den Karneval von Rio als an die Opernbühne erinnert, garniert mit flächendeckenden Videoprojektionen bot Harrison Birtwistles avantgardistische Oper „The Mask of Orpheus“ (1986; Libretto Peter Zinovieff; Regie Daniel Kramer). Diese stieß beim Publikum im altehrwürdigen Coliseum auf höchst unterschiedliche Reaktionen – zwischen Begeisterung und totaler Verwirrung. Großartig war – und einhellig bejubelt wurde – „Orphée“ mit der hypnotisierenden Musik von Philip Glass (Regie: Netia Jones): Die hervorragende Inszenierung beruht auf Jean Cocteaus legendärem Schwarzweißfilm und variiert den Orpheus-Mythos auf überaus spannende, intelligente Weise. „Jacques Offenbach, Orpheus in the Underworld
English National Opera, 28. November 2019“
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Orpheus, Eurydice und die tanzende Yoga-Klasse: Ein Ballett mit Gesang an der English National Opera

Foto: © Donald Cooper

English National Opera, 19. November 2019

Christoph Willibald Gluck, Orpheus and Euridice
in der Version von Hector Berlioz, englische Übersetzung von Christopher Cowell, English National Opera, 19. November 2019

von Charles E. Ritterband

Wie sehr sich doch unser Ohr bei Barock-Opern an Originalinstrumente gewöhnt hat! Vor allem die meist so hervorragenden Interpretationen im Theater an der Wien haben unser Gehör auf Originalinstrumente und ihren wunderbar herben Klang eingestimmt – „getunt“, um einen Anglizismus zu verwenden. Deshalb waren wir etwas enttäuscht vom Orchester der English National Opera (Dirigent: Harry Bicket), das diese berühmteste aller Gluck-Opern mit „modernen“ Instrumenten begleitete. „Christoph Willibald Gluck, Orpheus and Euridice,
English National Opera, 19. November 2019“
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Bezaubernde „Iolanthe“ von Gilbert & Sullivan an der Londoner English National Opera

Titelfoto: © Clive Barda
Gilbert & Sullivan, Iolanthe, English National Opera,
24. Februar 2018

Dirigent, Timothy Henty
Regie, Cal McCrystal
Bühne, Paul Brown
Choreographie, Lizzi Gee
Chormeister, James Henshaw und Mark Biggins

Iolanthe, Samantha Price
The Lord Chancellor, Andrew Shore
Queen of the Fairies, Yvonne Howard
Phillis, Ellie Laugharne
Strephan, Marcus Farnsworth

von Charles E. Ritterband

Hatte sich am Abend zuvor in der „Carmen“ der Royal Opera eine gewisse Langeweile und Unmut über eine allzu sehr von eitlem Regietheater dominierte Inszenierung eingestellt, war hier, in der von Covent Garden nicht allzu weit entfernten English National Opera alles anders. „Gilbert & Sullivan, Iolanthe, English National Opera, 24. Februar 2018“ weiterlesen