Die English National Opera fasziniert mit „Blue“ – einer hochpolitischen Oper zu „Black Lives Matter“

Janine Tesori (Libretto Tazewell Thompson), “Blue”  English National Opera ENO, 4. Mai 2023

Ein hoch aktuelles und somit hochpolitisches Werk: Musikalisch ansprechend, thematisch fesselnd. „Blue“ ist die Geschichte eines jungen Schwarzen, pikanterweise Sohn eines Polizisten, der als Teilnehmer an einer gewaltfreien Demonstration von einem weißen Polizisten erschossen wird (ohne dass dieser vor Gericht kommt): „Black Lives Matter“ als Oper


Janine Tesori (Libretto Tazewell Thompson), “Blue”
English National Opera ENO, 4. Mai 2023

Britische Uraufführung

Orchester der English National Opera
Dirigent: Matthew Kofi Waldren

Regie: Tinuke Craig

Bühne/Kostüme: Alex Lowde
Licht: James Farncombe
Ton: Yvonne Gilbert

Die Mutter: Nadine Benjamin
Der Vater: Kenneth Kellogg
Der Sohn: Zwakele Tshabalalari

von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

 Ein Werk wie man es in dieser erschütternden Eindringlichkeit und Realitätsnähe selten, ja wohl nie zu sehen bekommt: Sängerisch hervorragend, musikalisch höchst beachtlich und in der technisch vollkommenen und zugleich ästhetisch perfekten Inszenierung – schlicht atemberaubend.
Die Szenen spielen sich ab vor Projektionen, die teils die triste Stadtlandschaft von Harlem, dem traditionellen Wohngebiet der schwarzhäutigen New Yorker, im Schwarzweiss des Dokumentarfilms und dann wieder als farbige Strichzeichnung wiedergibt. Die schlichte aber ergreifende Handlung spult sich geradezu schicksalshaft auf einer rechteckigen, um 360 Grad drehbaren Bühne innerhalb der Bühne ab, die Geschichte ist rasch erzählt: eine Frau „die Mutter“ – stimmstark gesungen von der britischen Sopranistin Nadine Benjamin – ist schwanger, ist darüber entzückt, doch als sie sicher ist, dass es ein Bub wird, reagieren ihre Freundinnen entsetzt: Ein schwarzer Junge in Amerika wird es schwer haben.

Und wie Recht sie doch behalten sollten: Der kleine Bub wächst heran zu einem politisch bewussten und engagierten Teenager, konfrontiert seinen Vater, einen Polizisten, der an Law and Order und im weiteren Sinne an Amerika glaubt. Der rebellische Heranwachsende bezeichnet die Uniform seines Vaters despektierlich als „Clown Costume“ und wirft ihm vor, in seiner Rolle als Ordnungshüter lediglich den Weißen zu dienen. Er ist ein „Hoodie“, trägt die Kapuze seines Sweat Shirts über dem Kopf und setzt seine Kappe verkehrt auf – die Wahrzeichen der aufmüpfigen schwarzhäutigen Teenager. Als die Nation durch die Erschießung eines Schwarzen durch einen Polizisten aufgerüttelt wird, geht der 16-Jährige auf die Straße und wird bei einem gewaltfreien Protest ebenfalls von einem weißen Polizisten erschossen. Der zweite Akt zeigt die erschütterten Eltern und Freunde bei der Beerdigung – und die Konfrontation des Vaters, der jetzt seine Polizeiuniform an den Nagel gehängt hat, mit einem Priester, dessen tröstende Worte ihn nicht zu überzeugen vermögen.

Die Musik der mehrfach preisgekrönten amerikanischen Komponistin gibt die Dramatik der teilweise immer noch nach Trennlinien der rassischen Zugehörigkeit und der sozialen Schicht gespaltenen amerikanischen Gesellschaft ebenso hervorragend wieder wie die aufwühlenden Emotionen des Elternpaares, das seinen Sohn verloren hat – wie auch die Konfrontation der Generationen innerhalb dieser Familie. Die Musik – mit Präzision und Stärke vom ENO-Hausorchester unter der souveränen Stabführung von Matthew Kofi Waldren – wechselt zwischen Jazz- und Spiritual-Elementen, zwischen Harmonie und Emotionalität, zwischen der Brutalität des Geschehens und dem Versuch, Trost in der Religion zu finden. Man fühlt sich in dieser ausschließlich von Schwarzen gesungenen und handelnden Oper immer wieder an „Porgy and Bess“ erinnert.

Stimmlich herausragend als Vater der amerikanische Bariton Kenneth Kellogg mit tiefer, warmer, maskuliner Interpretation der Rolle des selbstbewussten und immer mehr von Selbstzweifeln gequälten Polizisten. Schauspielerisch exzellent und sängerisch vielversprechend als „Sohn“ der junge südafrikanische Tenor Zwakele Tshabalalari. Dass die Figuren dieses Stückes keine Namen tragen soll wohl die Allgemeingültigkeit ihres Schicksals symbolisieren.

Das 2015 für das amerikanische Glimmerglass Musikfestival in Auftrag gegebene Werk wurde im Jahr 2020 von der Music Critics Association of North America als „Best New Opera“ preisgekrönt – eine ebenso bemerkenswerte wie gerechtfertigte Auszeichnung. Der Titel der Oper bezieht sich auf die Farbe der Polizeiuniform des Vaters: „Black Man in Blue“.

Dr. Charles E. Ritterband, 6. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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