Foto: Joanna Freszel © Jacek Poremba
von Jolanta Łada-Zielke
Im zweiten Teil des Gesprächs mit der polnischen Sopranistin Joanna Freszel unterhalten wir uns über die mit der modernen Vokalmusik verbundenen Themen.
klassik-begeistert: Es gibt ein Klischee betreffend zeitgenössischer Musik. Man sagt, vor allem über atonale Stücke, dass der Sänger falsch singen kann, und das Publikum merkt das nicht. Haben Sie diese Meinung auch schon gehört?
Joanna Freszel: Leider glaube ich, dass an diesem Stereotyp etwas Wahres dran ist. Interessant, dass viele Sängerinnen und Sänger auch so denken. Meiner Meinung nach hängt alles davon ab, wie aufrichtig man mit der Musik und dem Komponisten ist. Es ist keine Kunst, ein zeitgenössisches Werk, das oft in halsbrecherischem Tempo geschrieben wurde, mit einer fantastischen schauspielerischen Leistung aufzuführen, als sei man ein Virtuose in der Sache, aber von der Partitur abzuweichen.
Es gibt Musiker und Zuhörer, die zeitgenössische Musik nicht mögen, und das ist ihr gutes Recht, wie auch bei Sängern. Diejenigen, die dieses Repertoire nicht schätzen, behandeln es oft „stiefmütterlich“. Sie wollen sich die schwierige und anstrengende Arbeit beim Einstudieren der Stücke nicht antun, weil sie denken: „Wer wird überprüfen, ob das mit den Noten stimmt, was ich singe? Das brauche ich nicht, ich mag lieber Verdi-Arien“.
Seit einem Jahr unterrichte ich die Interpretation der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts an der Karol-Szymanowski-Musikhochschule in Kattowitz und höre oft von Studenten: „Frau Freszel, das gefällt mir nicht! Können wir stattdessen Donizetti singen?“ Ich antworte darauf: „Klar, können wir“. Aber ich versuche, junge Menschen von dieser Musik zu überzeugen. Natürlich gibt es darunter, wie in jeder Epoche, mehr oder weniger gelungene Kompositionen. Aber es liegt am Interpreten und seiner Ehrlichkeit, ob er das gegebene Werk von der besten Seite präsentiert oder es auf die leichte Schulter nimmt. Ich kenne beide Einstellungen, aber ich selbst bevorzuge ein ehrliches Einstudieren der Partitur.
Ich mag es auch, mit einem Komponisten zu sprechen, wenn ich die Gelegenheit dazu habe, um herauszufinden, warum er oder sie ein solches Stück geschrieben, einen solchen Text und ein solches Intervall an einem bestimmten Ort verwendet hat. Manchmal genügt ein einziges Gespräch, oder ein Telefonat. Sobald ich die gebrauchten Informationen habe, fange ich an, zu singen. Dann weiß ich instinktiv, welche Farbe diese oder jene Phrase benötigt, welche Stelle ich schärfer und welche freier artikulieren sollte. All dies muss mit der richtigen Technik unterstützt werden. Dank meiner langjährigen Tätigkeit als Chorsängerin habe ich mir die Fähigkeit angeeignet, Partituren schnell zu lesen und harmonisch zu denken. Dies finde ich sehr nützlich, denn ich muss zugeben, dass moderne Stücke manchmal nicht einfach sind.
klassik-begeistert: Was bereitet die größten Schwierigkeiten? Intervallsprünge, Atonalität oder vielleicht Polyrhythmik?
Joanna Freszel: Ich vertrat einmal eine Kollegin im Vokalsextett proMODERN, das sich mit der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts befasst. Wir sangen eine halsbrecherische, rhythmisch schwierige Komposition, bei der wir viel zählen mussten. Es stellte sich heraus, dass wir nur das Metrum auf Viertakt umstellen mussten und die Arbeit hat einen Schwung gewonnen. Ich möchte lieber nicht verraten, welches Stück das war (lacht). Es ist tatsächlich die Polyrhythmik, die mich bisher wohl am meisten herausgefordert hat. Man sagte bereits bei der Aufnahmeprüfung zu der Musikgrundschule, dass Schlagzeug für mich keine glückliche Wahl sein würde (lacht).
klassik-begeistert: Sie singen die Werke von Agata Zubel, einer Komponistin und Sängerin, die ihre Stücke an die weibliche Sensibilität und die entsprechende Technik anpasst. Halten Sie das für eine ideale Kombination?
Joanna Freszel: Ich würde es mit einem Dirigenten vergleichen, der auch ein Instrumentalist ist. Beachten Sie, wie Dirigenten ein Streichquintett leiten, wenn sie selbst Geiger sind. Das zeigt sich im Ausdruck, in der Phrasierung und im Verständnis des Textes. Vor kurzem hatte ich das Vergnügen, Gustav Mahlers vierte Symphonie unter der Leitung von Case Scaglione aufzuführen. Wir haben besonders an einer Stelle gearbeitet, an der man ein maximales Piano erzeugen muss, was in dieser Sinfonie geradezu markant klingt. Wenn die Sopranistin nicht zu laut singen will, stellt der Dirigent den gesamten Orchesterapparat für sie ein. In diesem Fall schlug der Dirigent dem Orchester das flautando vor, also mit dem Bogen von oben, nur auf den Saiten zu spielen. Dann tauchte plötzlich eine wundervolle Klangfarbe auf, die einen wunderbaren Raum für mein Piano schuf.
Das Gleiche gilt für eine Komponistin, die zum Beispiel ein klassisches Gesangsstudium absolviert hat. Agata Zubel leistet mit ihrer Kompositionstechnik, ihrem Ideenreichtum und ihrem Wissen über Sologesang, Duette (mit Cezary Duchnowski) und elektronische Musik eine sensationelle Arbeit. Kürzlich erhielt sie einen weiteren Preis bei den Donaueschinger Musiktagen. Ich habe ihr Werk „Outside the Realm of Time“ gehört, bei der sie selbst als Sopranistin in Form eines Hologramms auftrat. Diese Art des Experimentierens ist ihr Element, und niemand könnte es besser machen. Eine andere Sängerin oder ein Sänger, die diese Partitur für dieses Stück erhalten hätten, hätten bestimmt den Kopf geschüttelt (lacht).
klassik-begeistert: Ihr Lieblingskomponist oder -komponistin, zeitgenössisch oder aus früheren Epochen?
Joanna Freszel: Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten, denn es gibt viele. Abgesehen davon habe ich eher Lieblingswerke von bestimmten Komponisten. Je nach den Etappen ihres Schaffens präsentieren sie unterschiedliche Niveaus, ihre Werke sind mehr oder weniger erfolgreich und sprechen mich mehr oder weniger an. Ich liebe Witold Lutosławskis „Chantefleurs et Chantefables“, das ich kürzlich in Warschau unter der Leitung von José María Florencio aufgeführt habe. Ich habe dieses Stück noch während des Studiums mit Frau Rappé vorbereitet und wir haben es so gut gemacht, dass ich noch heute davon profitiere (lacht).
Das Gleiche gilt für Szymanowskis Lieder „Słopiewnie“, die man selten aufführt. Meine Professorin riet mir: „Mach es richtig und du wirst sie dein ganzes Leben lang singen“. Und es hat funktioniert.
Manche Werke haben für mich eine besondere Bedeutung. Gabriel Chmura schrieb drei Lieder speziell für mich, deren Interpretation ich mit ihm nicht mehr abstimmen konnte. Ich sang sie mit Bartłomiej Kominek während des Gabriel-Chmura-Gedenkkonzerts im Großen Theater in Poznań. Der Maestro liebte das Requiem von Johannes Brahms, und so bot mir die Dirigentin Renata Juszczyńska-Borowska an, an diesem Abend auch die Sopranarie aus diesem Werk zu singen. Es war eine spezielle Erfahrung, statt bei Gabriel, allein mit dem Gedanken an ihn, zu singen.
klassik-begeistert: Sie haben ein sehr reiches polnisches Repertoire, vor allem an Liedern. Und welche internationalen Werke singen Sie?
Joanna Freszel: Im Oktober 2022 sang ich in „An Index of Metals“ von dem italienischen Komponisten Fausto Romitelli in Liepaja (Lettland). Es war die Uraufführung dieses Werks. Zu meinem Repertoire gehören die meisten Sopranpartien aus Mozarts Opern. Ich habe Fiordiligi in „Così fan tutte“ in Sevilla sowie in Warschau gesungen. Aus der Barockmusik, aus der ich ja eigentlich komme, bin ich in der Oper „Dardanus“ von Jean-Philippe Rameau aufgetreten. In Poznań sang ich in „Figaro Gets a Divorce“ (Figaro lässt sich scheiden) von Elena Langer nach einem Libretto und unter der Regie von David Pountney. Es ist lustig, denn ich hatte zuvor Mozarts „Figaros Hochzeit“ mitgemacht. Also habe ich zwei Opern mit gegensätzlichem Inhalt in meinem Oeuvre. Das Stück „Mysteries of the Macabre“ nimmt bei mir einen besonderen Platz ein. Es ist eine zwölfminütige Auswahl von drei Arien aus den Opern von György Ligeti.
Ich kann unbescheiden sagen, dass ich das Aufführungsmonopol für dieses Stück in Polen habe (lacht). In meiner Heimat singt man es nicht, während man das auf phänomenale und sehr vielfältige Weise tun könnte. Ich hatte bereits vier Mal die Gelegenheit, das Stück aufzuführen, und jedes Mal habe ich eine andere Rolle gespielt. Das erste Mal habe ich es bei der Eröffnung des Festivals „Warszawska Jesień“ (Warschauer Herbst) mit Jacek Kaspszyk und dem Nationalen Philharmonischen Orchester gesungen, wobei ich einen Astronauten mit einer großen Flagge darstellte. Nachdem ich aus dem Publikum auf die Bühne sprang, nahm jemand aus dem Publikum diese Flagge. In Poznań hingegen erschien ich als eine Putzfrau mit Besen und einem vom Publikum ausgeliehenen Sprühgerät. Irgendwann entledigte ich meiner Arbeitskleidung und sang in einem mit Pailletten verzierten „kleinen Schwarzen“ weiter.
klassik-begeistert: Welche Erfolge waren in Ihrer bisherigen Karriere von Bedeutung?
Joanna Freszel: Ich sage immer: Du bist so viel wert wie dein letzter Auftritt. Es ist grausam, aber wahr. Sängerinnen und Sänger müssen jeden Tag ihres Lebens kämpfen. Es ist ein Beruf für starke Menschen, für Eroberer, die gerne Risiken eingehen. Deshalb ermutige ich junge Menschen, insbesondere die Schüler der Musikoberschulen, an Wettbewerben teilzunehmen. Ich selbst habe am Mieczysław-Karłowicz-Wettbewerb in Krakau teilgenommen, nachdem ich mein Gesangsstudium an der Musikschule des Zweiten Grades begonnen hatte. Es fehlte mir noch ein wenig an Selbstvertrauen, aber es gelang mir, den Sonderpreis für meine Darbietung eines Liedes von Karłowicz zu gewinnen. Eine solche Erfahrung ermutigt die Adepten der Gesangkunst, beflügelt sie und motiviert zu weiteren Anstrengungen. So wirkte an mir der Sieg am 5. Jan-Eduard- und Jozefina-Reszke-Gesangwettbewerb[1], bei dem ich die meisten der möglichen Preise gewonnen habe. Zu den Nebenpreisen gehörte ein Konzert in der Świętokrzyska-Philharmonie in Kielce, der wiederum zu meiner hervorragenden Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Jacek Rogala führte. Solche Kontakte, die weitere Auftritte ermöglichen, sind manchmal wertvoller als ein Geldpreis. Beim Belvedere-Wettbewerb 2014 in Wien schaffte ich es nämlich zwar nicht ins Finale, aber während der zweiten Etappe hörte mich der russische Regisseur Dmitry Bergmann und lud mich zum Vorsingen für die Rolle der Marguerite in Gounods „Faust“ an der Estnischen Nationaloper in Tallinn ein. Ich habe das Vorsingen erfolgreich bestanden und die Rolle bekommen. Wenn ich nicht an diesem Wettbewerb teilgenommen hätte, wäre das nicht passiert.
klassik-begeistert: Am 18. Dezember 2022 singen Sie in der Elbphilharmonie in Hamburg Alexander Lokshyns „Margaretenlieder – Szenen aus Goethes’ Faust“. Was für ein Stück ist das?
Joanna Freszel: Es ist ein Werk auf einen russischen Text geschrieben, mit einer sehr dichten, romantischen Textur, obwohl es 1973 entstand. Die Aufführung leitet der Dirigent mit russischen Wurzeln, Andrei Boreyko. Das Stück basiert auf dem Thema der Marguerite aus „Faust“, das den Komponisten inspiriert hat. Ich halte das für eine gewisse Fortsetzung meiner estnischen „Liebesaffäre“ mit diesem Thema. Die Besetzung ist ziemlich groß und passt perfekt zu dem großen Konzertsaal. Ich bin sehr gespannt, wie wir die Balance finden, damit mein lyrischer Sopran an jeder Stelle im Zuschauerraum perfekt zu hören ist. Die Akustik der Elbphilharmonie ist vielversprechend, so dass ich glaube, dass wir etwas Interessantes und Wertvolles für das Publikum schaffen werden. Ich lade alle Leser herzlich ein!
Herzlichen Dank für das interessante Gespräch und weiterhin viel Erfolg.
Wir freuen uns auf Ihren Auftritt in der Elbphilharmonie in Hamburg!
Interview: Jolanta Łada-Zielke, 25. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
[1] Die Reszkeƒs waren die berühmten Geschwister polnischer Sänger des 19. Jahrhunderts, die sich neben ihrer musikalischen Karriere auch um die Ausbildung junger Adepten der Gesangskunst kümmerten.