Ein Pianist als Poet – und ein Orchester als Klangfamilie

Fazıl Say und das CBSO  Alte Oper Frankfurt, 18. Mai 2025

Fotos: © Alte Oper Frankfurt/Tibor-Florestan Pluto

Fazıl Say und das City of Birmingham Symphony Orchestra verzaubern mit Präzision und Fantasie

Was von diesem Abend bleibt, ist mehr als ein brillantes Konzert. Es war eine musikalische Reise durch Welten, die kontrastreicher kaum sein könnten – und doch durch die gestalterische Größe von Kazuki Yamada und die Klangintelligenz des City of Birmingham Symphony Orchestras zu einem Bogen zusammengebunden wurden.

Hector Berlioz
Le Carnaval Romain Op. 9

Maurice Ravel
Klavierkonzert G-Dur

Leonard Bernstein
Sinfonische Tänze aus: West Side Story

Maurice Ravel
La Valse. Poème chorégraphique

City of Birmingham Symphony Orchestra

 Kazuki Yamada, musikalische Leitung
Fazil Say, Klavier

Alte Oper Frankfurt, 18. Mai 2025

von Dirk Schauß

Schon in den ersten Takten wurde klar: Hier spielte kein Orchester, das nur auf technische Präzision bedacht war. Das City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) unter der Leitung von Kazuki Yamada offenbarte vom ersten Moment an eine klangliche Brillanz und gestalterische Raffinesse, die in jedem Phrasenbogen, jeder dynamischen Abstufung und jedem orchestralen Dialog ein bewusstes musikalisches Denken spürbar machte.
Yamada, ein Dirigent von feinfühliger Klarheit und eruptiver Energie, formte das Ensemble mit einem dirigentischen Gestus, der ebenso geschmeidig wie kontrolliert wirkte. Seine Bewegungen waren von jener stillen Autorität, die nicht dominieren, sondern aus dem Inneren der Musik heraus führen will. Das CBSO folgte ihm mit geschärftem Kollektivgeist, mit einem Gespür für leuchtende Farbvaleurs und ein stets vibrierendes rhythmisches Fundament. Was hier auffiel: Yamada und sein Orchester bilden eine perfekte Einheit – getragen von großem Enthusiasmus, überschäumender Spielfreude und einer familiären Harmonie, wie man sie nur selten erlebt.

Den Auftakt bildete Hector Berlioz’ sprühende Konzertouvertüre „Le Carnaval Romain“, ein Werk, das in seiner überbordenden Vitalität und orchestralen Virtuosität leicht zur bloßen Schau geraten kann – nicht so an diesem Abend. Yamada nahm das Werk nicht als brillante Ouvertüre, sondern als farbig changierende Erzählung, die zwischen tänzerischer Ausgelassenheit und feinnerviger Lyrik schwebte.

City of Birmingham Symphohny Orchestra (c) Alte Oper Frankfurt Tibor-Florestan Pluto

Die Holzbläser formten die Kantilenen mit einem Hauch von italienischer Leichtigkeit, während die Blechbläser mit goldenem Strahl die eruptiven Passagen zum Leuchten brachten. Besonders eindrucksvoll gelang der Spannungsaufbau in der Reprise, als Yamada das Orchester zu einem wahren Klangrausch führte, der jedoch nie plakativ wirkte, sondern aus der inneren Logik des Werkes heraus wuchs. Und bemerkenswert dabei: die stupende Stilsicherheit des Orchesters. Berlioz klang wie Berlioz – französisch, transparent, farbig, mit einer immensen Bandbreite in den Valeurs des Schlagzeugs.

Mit Ravels Klavierkonzert in G-Dur betrat Fazıl Say die Bühne – und mit ihm eine musikalische Persönlichkeit, die sich jeglicher Einordnung entzieht. Sein Spiel war geprägt von einer einzigartigen Mischung aus kristalliner Klarheit, poetischer Freiheit und körperlicher Präsenz.

Schon der Beginn des ersten Satzes, dieser jazzig aufgeladene, nervös funkelnde Kopfsatz, ließ in Says Händen eine urbane Klanglandschaft entstehen, in der jeder Akzent saß, jeder Lauf wie improvisiert wirkte – und doch einer übergeordneten Architektur folgte. Seine Phrasierung war von einer tänzerischen Geschmeidigkeit, sein Anschlag perlend und stets in Bewegung. In der berühmten Kantilene des zweiten Satzes ließ er das Klavier singen – nein, atmen. Die Phrasierungen dehnten sich über Zeiträume hinweg, als würde sie von innen heraus leuchten.

Kein Pedalnebel, keine romantisierende Sentimentalität, sondern eine geradezu asketische Klarheit, in der jeder Ton Bedeutung erhielt. Das Finale dann: ein rhythmisches Feuerwerk, das Say mit tänzerischer Präzision und stupender Technik gestaltete – ohne jeden Effekt, rein aus dem musikalischen Puls heraus. Dabei dirigierte er, versunken in seine Welt, fortwährend vor sich hin – eine Art innerer Dirigierfluss, der seiner Spielintensität jedoch keinerlei Abbruch tat, sondern sie vielmehr noch intensivierte.

Yamada und das Orchester waren dabei nicht bloße Begleiter, sondern feinfühlige Partner, die mit atmender Elastizität auf Says freigeistiges Spiel reagierten. Besonders im zweiten Satz beeindruckte das zarte Zusammenspiel mit den Holzbläsern, das wie ein leiser Dialog zwischen fernen Seelen klang. Die Streicher agierten mit seidigem Klang, zurückhaltend und doch präsent – eine Begleitung, die Raum ließ und zugleich Halt gab.

Viel Begeisterung für diesen feinen Vortrag, der mit zwei fulminanten Zugaben gefeiert wurde: zunächst mit einer mitreißend virtuosen und originellen Version seiner eigenen „Alla turca Jazz“, die Mozarts berühmte Sonate KV 331 in schillernden Jazzphrasierungen neu erfand – gemeinsam mit dem Orchester dargeboten –, danach mit einer faszinierenden Eigenkomposition in russisch-orientalischer Färbung, virtuos, geheimnisvoll und spannungsgeladen.

Fazıl Says „Black Earth“ („Kara Toprak“) ist ein faszinierendes Klavierstück, das traditionelle türkische Musik mit zeitgenössischer Klangsprache verbindet. Inspiriert vom gleichnamigen Volkslied des blinden Dichters Aşık Veysel, greift Say dessen melancholische Themen – Natur, Einsamkeit und Vergänglichkeit – auf und interpretiert sie neu.

Durch den Einsatz eines präparierten Klaviers, bei dem die Saiten mit der Hand gedämpft werden, entsteht ein perkussiver, orientalisch anmutender Klang, der an Instrumente wie Santur oder Kanun erinnert. Die Komposition schwingt zwischen zarten, introvertierten Passagen und dramatischen Ausbrüchen, wobei sie mikrotonale Elemente der türkischen Makamen-Musik mit modernen Techniken verschmilzt. Über die musikalische Ebene hinaus wird das Stück oft als politischer Kommentar gelesen – sei es zur Umweltzerstörung oder zu gesellschaftlichen Spannungen, Themen, die den regimekritischen Komponisten immer wieder beschäftigt haben. Es war noch einmal ein ganz intensiver Ausdrucksmoment, der die Zeit stehen ließ.

Nach der Pause wurde mit Leonard Bernsteins Symphonic Dances aus „West Side Story“ ein anderes musikalisches Terrain betreten – rhythmisch komplex, emotional aufgeladen, voller Brüche und Farben. Kazuki Yamada führte das CBSO durch diese orchestrale Choreographie mit einer tänzerischen Körpersprache, ließ die Rhythmen federn, die Synkopen knistern und die orchestralen Kontraste in schillernden Farben explodieren.

Beißend, hart, ja aggressiv klang das bisweilen – dann wieder herrlich jazzig mit viel Groove. Das Publikum wurde Teil des musikalischen Spiels: beim berühmt-berüchtigten „Mambo“ durften alle laut „Mambo!“ rufen und zuvor beim Beginn ihre Finger schnipsen – ein Moment überschäumender, fast ausgelassener Konzertfreude. Die Schlagzeuggruppe agierte mit rasiermesserscharfer Präzision, die Holzbläser ließen ihre Stimmen wie urbane Rufe durch den Raum gleiten, und in den lyrischen Momenten entstand eine Atmosphäre, die zwischen Nostalgie und Schmerz vibrierte. Besonders die „Somewhere“-Passage war von schlichter Schönheit, getragen von einem warmen Streicherklang, der in die Stille zu sinken schien. Mit großer Risikofreude fetzten die Blechbläser des CBSO ihre Einwürfe mit Vehemenz in den Konzertsaal. Einfach mitreißend!

Den Schlusspunkt setzte Ravels „La Valse“, jene dekadente Totentanz-Fantasie auf das untergehende Wien. Yamada inszenierte das Werk als unaufhaltsamen Strudel, in dem sich Glanz und Verfall umkreisen. Anfangs schien der Walzer aus dem Nichts zu entstehen – wie eine gruselige Erinnerung, die sich langsam manifestiert. Die Bassklarinette murmelte, die Streicher hauchten – und dann erhob sich langsam ein Klanggebilde, das zunächst elegant, dann zunehmend delirierend wurde. Ravels Musik klang hier unheimlich, düster, dann schwelgerisch verführend – um schließlich in einer musikalischen Apokalypse zu enden.

City of Birmingham Symphohny Orchestra (c) Alte Oper Frankfurt Tibor-Florestan Pluto

Yamada schichtete die Klangmassen mit architektonischer Präzision, ließ den Tanz tanzen – aber nie ins Harmlos-Elegante kippen. In den finalen Takten steigerte sich das Orchester zu einem Klanginferno, in dem sich der Walzer selbst verschlang. Ein Moment von furchtbarer Schönheit. Entsprechend groß war der aufbrandende Jubel. Als Dank: der sechste Ungarische Tanz von Johannes  Brahms – virtuos, charmant, mitreißend. Winkend verabschiedete sich das CBSO und sein charismatischer Dirigent.

Was von diesem Abend bleibt, ist mehr als ein brillantes Konzert. Es war eine musikalische Reise durch Welten, die kontrastreicher kaum sein könnten – und doch durch die gestalterische Größe von Kazuki Yamada und die Klangintelligenz des City of Birmingham Symphony Orchestras zu einem Bogen zusammengebunden wurden.

Die stilistische Wandlungsfähigkeit war dabei atemberaubend – jeder Komponist klang authentisch, eigen, unverwechselbar. Die Franzosen Berlioz und Ravel erhielten jene Transparenz, jene Eleganz und schillernde Farbigkeit, die ihre Musik verlangt. Fazıl Say erwies sich als ein Solist, der nicht nur spielt, sondern spricht, dichtet, malt mit Tönen und vor allem intensive Atmosphären zu beschwören weiß.

In seiner Interpretation wurde Ravel nicht zum kunstvollen Dekor, sondern zur lebendigen Gegenwart. Ein Abend, der das Ohr weckte, den Geist belebte und das Herz berührte.

Dirk Schauß, 19. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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