Das Saturday night fever fiel für uns alle aus. Lange Zeit. Für mich lautete das Motto in den vergangenen Monaten zusätzlich: I will survive. Heute kann ich sagen: I’m still standing.
Keine Sorge – ab jetzt wird’s klassisch. Auch.
von Gabriele Lange
Frau Lange hört zu „erscheint jeden zweiten Dienstag“. Tja. Hat längere Zeit nicht geklappt. Denn aus einer Unpässlichkeit wurde im letzten Jahr mehr. Und dann ging mir sowohl die Kreativität als auch die Puste verloren. Die letzte Kolumne habe ich deshalb Ende Januar verfasst.
In der Oper ist es ja praktisch immer die Schwindsucht. Romantisch hustet Mimì vor sich hin, dramatisch leidet Violetta in „La Traviata“. Das kam mit den Antibiotika aus der Mode.
„Oh, wie verändert ich aussehe!
Aber der Doktor ermahnt mich, doch noch zu hoffen!“
Verdi, La Traviata: Teneste la promessa (Anna Netrebko)
Jedenfalls bei Mitteleuropäern mit heizbarer Wohnung und Krankenversicherung. Da sieht Krankheit heute anders aus.
Bei mir eskalierte im ohnehin schon ausreichend unterhaltsamen 2020 ein Zipperlein so nach und nach, während ich immer gründlicher maskiert von Arzt zu Arzt wanderte. Im Spätherbst wurde schließlich aus einer geplanten Biopsie eine große OP. Dann durfte ich einige Tage aus nächster Nähe miterleben, wie sich Pfleger und Ärzte im Krankenhaus – damals schon teilweise am Ende ihrer Nerven und Kräfte – um die Patienten bemühten, während Unbelehrbare sich maskenlos oder mit ebenso albernen wie nutzlosen Visieren auf die Station mit frisch Operierten zu Besuch schmuggelten. Da war das Klatschen auf den Balkonen schon lange verklungen und vergessen.
„Großen Dank dir abzustatten… ist meine Pflicht“
Mozart: Bastien und Bastienne (Wiener Sängerknaben)
Die Diagnose aus der Histologie kam dann telefonisch. Krebs. Zeit, mir das schonend beizubringen, hatte der Arzt keine. Denn ein Teil der Belegschaft war gerade in Quarantäne, der Rest arbeitete im Akkord.
Das zieht einem ganz nett die Füße weg. Und doch: Das ist gar kein so spektakuläres Schicksal. Heute bekommen gut 50 Prozent der Menschen im Lauf ihres Lebens eine Krebsdiagnose. Opern schreibt darüber keiner. Es muss auch keiner seinen Mantel hergeben, um mir einen Muff zu schenken. Oder für meine Behandlung zu sammeln. Denn:
Ich gehöre mit Ihnen, liebe Leser, zu den Privilegierten. Ich saß zum Beispiel nicht im Flüchtlingslager Moria mit viel zu vielen anderen in nasskalten Zelten. Und mein Mann musste auch nicht wie die Menschen in den letzten Monaten in Indien um eine Behandlung für mich kämpfen. Die Macht des Schicksals wird bei uns eingeschränkt.
„Pace, pace mio dio“
Verdi: La forza del destino (Maria Callas)
Unsere Schmerzen lassen sich lindern, viele Krankheiten eindämmen oder besiegen. Ich konnte auf eine Behandlung nach dem Stand der Wissenschaft zählen – jener Wissenschaft, die von Verschwörungsmythen-Gläubigen und Populisten gerade so in den Dreck gezogen wird.
Allerdings: Sowohl die genauere Diagnose als auch der Start der Chemo verzögerten sich. Aus jenem Grund, den manche Menschen immer noch für eine Erfindung irgendwelcher geheimen Eliten halten, waren zum Beispiel die Labore überlastet.
Nachdem die erforderliche Therapie feststand, war klar: Sorgen um die Frisur würde ich mir in absehbarer Zeit keine mehr machen müssen. Kurz nach Start der Chemo verabschiedete sich mein Schopf Strähne für Strähne in die Haarbürste, auf den Pulli oder den Fußboden.
„Auch ich war ein Jüngling mit lockigem Haar.“
Lortzing: Der Waffenschmied (Kim Borg)
Um den letzten Haarschnitt für lange Zeit bat ich meinen Mann. Der Job war mit dem Rasierer rasch erledigt. Er behauptete dann, dass die Glatze richtig attraktiv sei. Und karrte mich in den folgenden Monaten klaglos mehrmals pro Woche zu Infusionen, Blutproben, Diagnoserunden, wartete im Auto, wenn’s schnell gehen sollte (und dann doch dauerte) oder holte mich auf Anruf wieder ab, putzte, bezog mein Bett, versorgte mich mit selbstgebackenem Kuchen, damit ich nicht an Gewicht verlor – und hielt meine dünner werdenden Nerven aus.
„Thank you“
(Sinéad O’ Connor)
Während manche Menschen verkündeten, welche unzumutbare Einschränkung ihrer Freiheit es bedeute, zum Einkaufen, für einen Flug, eine Zugfahrt oder – Gott bewahre – als Voraussetzung für einen Neustart der Kultur eine Maske über Mund und Nase zu ziehen…,
„Huh! Ich erstick’! Der Atem geht mir aus…
Ich fühlte, wie das Blut mir siedend steigt zum Kopf“
Mussorgsky: Boris Godunow (Anatoli Kotscherga)
…schwitzte und schnaufte ich bis zu fünf Stunden in meine FFP2 oder FFP3, je nachdem, was sich gerade bestellen ließ, während mir lebensrettende Gifte in den Blutkreislauf geträufelt wurden. Im Vergleich zu den Covid-Infizierten in den Intensivstationen ging’s mir aber immer noch prima.
Derweil wuchs mein Zorn. Auf die Spinner auf den „Querdenker“-Demos, auf die Politiker, die im Wahlkampfmodus auf die wenigen Lauten, auf die oft manipulativ Fehlinformierten statt auf die große Mehrheit der Vernünftigen hörten, auf die Leute, die das massenhafte Sterben in den USA, in Indien, in Brasilien ignorierten oder wegdiskutierten. So als ginge uns das nichts an. Oder als töte das Virus nur andere. Dabei waren es eben die Maßnahmen, die sie so hassten und hassen, die sie vor Ähnlichem bewahrten.
„Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“
Gottfried von Einem: Dantons Tod (Sonja Schöner)
Mein Zorn über diese unerträgliche Dummheit speist sich auch aus persönlichen Motiven. Denn für mich ist Covid besonders gefährlich. Mein Krebs greift das Immunsystem an. Die Behandlung fährt zudem eben dieses Immunsystem extrem herunter. Genau das sollte aber funktionieren, damit eine Impfung wirkt. In einer vergleichbaren Situation befinden sich übrigens eine Menge Leute, etwa Transplantierte, Autoimmun-Erkrankte oder Menschen, die gegen ihr Leiden bestimmte Antikörpertherapien erhalten.
Meine Behandlung neigt sich mit einem gewissen Glück dem Ende zu, mein Immunsystem wird sich hoffentlich in den nächsten Monaten erholen. Doch ich weiß, wie viele Menschen guten Grund haben, sich vor der nächsten Welle mit den infektiöseren Mutationen zu fürchten. Sie werden gern vergessen.
„Remember me
Remember me,
But ah
Forget my fate“
Purcell: Dido’s Lament (Alison Moyet)
Sie müssen sich von den Leuten fernhalten, die fröhlich die neu gewonnenen Freiheiten feiern. Und von allen anderen, die von diesen möglicherweise unmerklich angesteckt werden – denn Geimpfte bekommen sehr wahrscheinlich keine Symptome, können aber häufig das Virus weitergeben.
Vermisse ich die Kultur, die Oper, Konzerte, Theater, Kino? Und wie. Wir waren im letzten Jahr in Klausur. Wir beide. Denn mein Mann wollte mich schützen und verzichtete deshalb auf viel. Auf mehr als die meisten. Wir wollen raus ins Leben. Ist aber, wie eben erklärt, derzeit noch nicht so einfach.
„Stayin’ alive“ in der engen Wohnung…
(Leo Moracchioli)
Das Leben ist da schon mal strapaziös. Oder skurril. Da zieht mich mein treusorgender Gatte bei der Lüftungsrunde ums Haus routiniert auf eine Ausweichroute, wenn wieder Leute fast durch mich durchlatschen wollen, erinnert mich zuverlässig daran, vor dem Schritt ins Treppenhaus erst die Maske vors Gesicht zu ziehen, nimmt kein Paket entgegen ohne Schutz – und ratscht dann aus alter Gewohnheit unmaskiert mit der Nachbarin, als die Infektionszahlen in München gerade durch die Decke gehen. Über unseren Schrecken danach mag sich lustig machen, wer nie in einer solchen Lage steckte.
Händel: Alcina (Ensemble der Wiener Staatsoper)
Wenn sich unsere Welt dauerhaft normalisiert, wenn wir beide irgendwann sicher geimpft sind, werden wir vermutlich erst mal einige Schwierigkeiten haben, uns in der neuen Normalität einzuleben. Aber wohl nicht nur wir. Und vielleicht heißt es dann eines Tages tatsächlich…
Gabriele Lange, 21. Juni 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Aktuell schreibt sie auch über Themen wie Industrie 4.0 und Künstliche Intelligenz. Musikalisch mag sie sich ebenfalls nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie (hoffentlich bald wieder) etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de .
Frau Lange hört zu erscheint hoffentlich bald wieder jeden zweiten Dienstag.
Frau Lange hört zu (23): Kurkonzert mit Schwiegermutter-Schmeichler
Einfach wunderbar geschrieben! Danke fürs Mitnehmen auf die kleine, beschwerliche Reise zur Besserung, die nur gelingen kann, wenn man einen lieben Menschen an seiner Seite hat. Und das ist das, was heute zählt. Weiterhin gute Besserung, liebe Frau Lange.
Britta Römer