Foto: Wilfried Hösl (c)
Gaetano Donizetti, La Favorite, Bayerische Staatsoper, München
28. Februar 2018
Musikalische Leitung , Giacomo Sagripanti
Inszenierung, Amélie Niermeyer
Bühne, Alexander Müller-Elmau
Kostüme, Kirsten Dephoff
Licht, Michael Bauer
Choreographische Mitarbeit, Ramses Sigl Dramaturgie, Rainer Karlitschek
Chor, Sören Eckhoff
Léonor de Guzman, Clémentine Margaine
Fernand, Matthew Polenzani
Alphonse XI, Ludovic Tézier
Balthazar, Mika Kares
Don Gaspard, Matthew Grills
Inès, Anna El-Khashem
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper
von Tim Theo Tinn
Ein umstrittener interessanter, in vielen Teilen hochartifizieller Abend – Belcanto-Grand Opera. Otto Schenk, prägender Theatergigant seit mehr als einem halben Jahrhundert, dem der Rezensent über Jahre immer wieder assistierte, legte das simpel und genial fest: Man kann machen, was man will! Es muss nur gut sein!
Will die Inszenierung psychologisch/dramaturgische Stimmigkeit bieten, mit dem Teppich von Libretto und Musik eine Neuverortung von Handlung und Personen wagen, Stilmittel des heutigen Alltags nutzen, historisieren oder die Welt als phantastischen Kosmos erfinden, der Ort, Zeit und Handlung wahrhaftig bleiben lässt?
Junger Novize im Kloster aus einfachen Verhältnissen erlebt heftige sexuelle Regung durch eine Unbekannte „… ich fand mich bebend bei Ihrem Anblick vor Lust …!“ Im Zwiespalt zwischen gottergebenem Zölibat, seinen Trieben und dem Verdruss seines Priors, verlässt er das Kloster und trifft auf das Objekt seiner Begierde – die Mätresse des Königs, adlig. Augenscheinlich gefällt der ungestüme Bursche, man verliebt sich, der untragbaren Situation soll entgangen werden, indem der Heißsporn zunächst Karriere macht, im Krieg für den König.
Das klappt. Nachdem er wohl viele Menschen im Krieg umgebracht hat, kann er dem Machterhalt des Königs dienen: er heiratet die Angebetete, ohne zu wissen, dass sie bisher die Geliebte war. Es gelingt der nun Angetrauten nicht ihre Vergangenheit offenzulegen. Spott von Hofleuten konfrontiert den ehemaligen Novizen und Kriegsheld mit der Wahrheit – völlig aufgelöst will er sich sogar mit dem König duellieren, geht dann aber zurück ins Kloster.
Im Kloster will die Ehefrau als Novize getarnt die Beziehung retten. In heiliger Messe ist schon das Gelübde des Gatten vollzogen. Trotzdem flammt die Liebe noch einmal auf, bevor „La Favorite“ stirbt.
Die Regisseurin entnahm gem. Programmbuch dieser Vorgabe das Grundthema Klerus und Staat im Spiegel tragischer Individuen.
Der Rezensent konnte dem Gebotenen eher ein unstrukturiertes Herz-Schmerz-Gemenge entnehmen, dem der Zugriff durch Interpretationslinie fehlte. Aber muss das immer überhaupt sein? Ein bunter Reigen assoziativer Momente, der die Handlung streift und eine Fülle stimmiger aufreizender Bilder abspult, wurde hier zum Publikumsbegeisterer ohne Langeweile, zumal der Staatsoper adäquate Eliten mit vokal-darstellerischer Eloquenz zur Verfügung standen.
Das Bühnenbild besteht aus einigen fahrbaren ca. 10 Meter hohen Paravents, z. T. mit Durchsicht auf sakrale Bilder und Kruzifix mit lebendem Jesus-Darsteller, der immer mal den Kopf bewegte und in unfreiwilliger Komik auch mal zappelte, als Gottes Unwillen demonstriert werden sollte. So konnte genial der Bühnenraum verändert werden, ohne ungünstige weitere Umbaupausen. Irritierend wirkten ca. 30 karge Holzstühle, nahezu in allen Bildern ernüchternd. Das ganze ins atmosphärisch dichter wunderschöner Ausleuchtung, werkadäquat.
Die Kostüme waren gestriger Regietheater-Kleister: Alltagkleidung, Anzüge etc. Das ist ein erfreulicherweise überholter Mainstream, der nur noch einem Mangel an Phantasie zuzuordnen ist. Damit z. B. Mönche aus dem 14. ins 21. Jahrhundert zu verkleistern ist unschlüssig und verwischt Status und Individualität, hier wohl eine erhoffte Modernität.
Das Orchester unter Leitung von Giacomo Sagripanti wirkte präzise, aber verwaschen und oft zu laut. Es fehlte das Fünkchen Esprit. Wunder wurden keine gewebt. Dezibel: oft zu laut, Dynamik: befriedigend, Feinzeichnung: wenig.
Léonor de Guzman – Mezzosopran – Clémentine Margaine: die Partie fordert lyrische und dramatische Belcanto-Qualitäten. Wir erleben eine sehr große Stimme, ausgeformt mit einem sehr schönen Fundament im unteren Register. Mittellage gut – nach abgesetztem Registerwechsel eröffnen sich oben regelrechte Trompeten. Die Stimme ist hier weniger auf Feinzeichnung, mehr auf Volumen trainiert. Alles absolut mangelfrei, es wird nicht geschrien – aber so ein Stimmorkan berührt nicht. Dezibel: außerordentlich, Dynamik: einwandfrei, Feinzeichnung: zu wenig.
Fernand – Tenore spinto – italienischer jugendlicher Heldentenor – Matthew Polenzani: atemberaubend, diese Stimme ist tatsächlich noch besser geworden, singt mit großer Emphase, idealer Technik, unangestrengt: der Star des Abends. Auch in den Spitzentönen perlen seine perfekten musikalischen Deklamationen. Dezibel: ideal, Dynamik: ideal, Feinzeichnung: ideal.
Alphonse XI – Kavalierbariton – Ludovic Tézier: war ein Weltklasse–Sänger, nun ist da einiges untergegangen. Der Stimmsitz ist zu nasal geworden – er entwickelt seine Bögen daraus – das ist unschön. Insgesamt routinierter Auftritt und Gesang – das war mal mehr. Dezibel: angemessen, Dynamik: lahm, Feinzeichnung: ansatzweise.
Balthazar – Dramatischer Basso Profondo/schwarzer Bass – Mika Kares: ein seltener Stimmtyp, gefällt außerordentlich, gesanglich stimmt alles, nach oben etwas stumpf, orgelt wunderbar, darstellerisch unambitioniert. Dezibel: passt, Dynamik: schön, Feinzeichnung: kann berühren.
Don Gaspard – Tenor – Matthew Grills: sehr angenehme Stimme und angenehmer Akteur, ohne Mangel. Beispiel der guten Nachwuchsarbeit der Staatsoper. Dezibel: gut und tragfähig, Dynamik: richtig und gut, Feinzeichnung: bleibt offen, da die Partie zu klein ist.
Inès – Sopran – Anna El-Khashem: wunderschöne Koloraturen, eine Spur zu viel Vibrato, schöne ausgeformte Stimme, dynamische Registerwechsel, auch hier wohl mehr auf Volumen als auf Feinzeichnung trainiert, dies aber bei sehr schöner Lyrik. Dezibel: immer richtig, Dynamik: richtig und gut, Feinzeichnung: schön mit Luft nach oben.
Der Chor der Bayerischen Staatsoper war großartig.
Diese Musiktheater-Aufführung als Gesamtpaket erfüllte das Publikum und auch den kritischen Besucher völlig. Es war durchgehend interessant und vorgenannte Petitessen können den vitalen Genuss insgesamt nicht eliminieren.
Großer Applaus eines beglückten Publikums.
Tim Theo Tinn, 2. März 2018
für klassik-begeistert.de