Foto: © Wilfried Hösl
Gaetano Donizetti – Lucia di Lammermoor
Bayerische Staatsoper, 13. Juli 2017
Musikalische Leitung – Oksana Lini
Inszenierung – Barbara Wysocka
Bühne – Barbara Hanicka
Lord Enrico Ashton – Ambrogio Maestri
Lucia Ashton – Diana Damrau
Sir Edgardo di Ravenswood – Charles Castronovo
Lord Arturo Bucklaw – Galeano Salas
Raimondo Bidebent – Nicolas Testé
Alisa – Deniz Uzun
Normanno – Dean Power
Bayerisches Staatsorchester
Chor der Bayerischen Staatsoper
von Maria Steinhilber
Nach dem zweiten und dritten Gong füllt sich die Bayerische Staatsoper schlagartig. Kein einziger freier Platz ist zu finden. „Ausverkauft“, verkündet die Abendkasse. Eine Weltklasse-Besetzung lockt viele Belcanto-Freunde aus dem Wohnzimmer. Jeder erwartet voller Spannung „Lucia di Lammermoor“, Gaetano Donizettis Oper in drei Akten.
Ein kleines Mädchen steht auf der Bühne, mit dem Rücken zum Publikum. In der Hand hält sie eine Pistole. Das Wahnsinns-Sujet ist besiegelt. Die Adelsfamilien Ravenswood und Ashton sind seit Menschengedenken verfeindet. Der Name Ashton ist mit Graffiti an der Wand durchgestrichen. Die Bühne: ein alter Ballettsaal der späten Fünfziger. Ein alter Flügel liegt halb zertrümmert auf dem Boden; die Fenster sind beschlagen.
Der Bariton Ambrogio Maestri verkörpert als Lord Enrico Ashton den strengen und furchteinflößenden Bruder Lucias. Melodiös, nicht dramatisch – frei und doch notwendig. Sein ehrlicher Bariton lässt das Publikum nicht an die unsympathische Rolle denken, die er spielt. Leider ist Maestri der Schauspielerei nicht sehr mächtig. Sein Auftreten erinnert eher an ein Michelin-Männchen als an einen mächtigen Lord. Die sagenhafte Diana Damrau spielt sich neben ihm fast schon wund. Trotz einer kleinen Handbewegung als größte schauspielerische Einlage erhält Maestri herrlich viel Applaus, und den hat er sich stimmlich ganz ehrlich auch verdient!
Frau Damrau ist der Star des Abends. Die Sopranistin hat die Rolle der Lucia im Blut. Der Wahnsinn fließt durch ihre Adern, und sie artikuliert ihn gekonnt aus. Das ist pure Perfektion, nichts ist nur annähernd falsch. Die Damrau ist so makellos, dass man darauf wartet, sie würde den nächsten Ton doch etwas ungestützt herauspressen. Aber nichts davon. Nur pure Professionalität und größte Lust am Spiel.
Fast 15 Minuten Wahnsinn und Ausnahmezustand herrschen während Damraus Arie „Il duolce suono“ in der Bayerischen Staatsoper. Fast alle Zuschauerinnen werden zu „Lucias“, als Diana sich wie eine Verrückte im weißen Paillettenkleid auf einem alten Mercedes räkelt und mit einer Pistole in der Hand ohnmächtig zu Boden sinkt. Kollektiver Wahnsinn – „Weltklasse-Wahnsinn“ mit dem Sahnehäubchen Diana.
Viva Diana Damrau, Sie sind ein Augenschmaus und eine perfekte „Irre“ für das Publikum!
Die Ukrainierin Oksana Lyniv gibt eine denkwürdig gute Vertretung für Kirill Petrenko. Sie tänzelt am Pult, gibt ein präzises und exaktes Dirigat, und das Orchester folgt ihr wie einem Reiseleiter, der mit Fähnchen durch eine fremde Stadt läuft. Das Publikum stampft mit den Füßen, als Lyniv auf die Bühne steigt.
Ein besonderer Instrumentalist erhält an diesem Abend zusätzlich Applaus: Sascha Reckert, der seine Glasharmonika sehr duolce-suono-mäßig spielt. Während Lucias Arie steht er im Mittelpunkt, und der gläserne, fast schon angsteinflößende Klang erstaunt das Publikum.
„Wenn große Emotionen nicht ehrlich ausgedrückt werden können, explodieren sie mit der Stärke einer Atombombe“, sagt die Regisseurin Barbara Wysocka. Sie wollte die Lucia näher an die Wirklichkeit heranbringen und dennoch eine gewisse historische Distanz beibehalten. Sie verlegt die Handlung in die Fünfziger- und Sechziger-Jahre des 20. Jahrhunderts. Störend daran ist, dass vor allem im ersten und zweiten Akt der Eindruck eines schlechten Rosamunde-Pilcher-Films entsteht.
Charles Castronovo spielt den leidenschaftlichen Sir Edgardo di Ravenswood. Sein schwarzes Haar und seine sizilianisch-ecuadorianischen Wurzeln passen außerordentlich gut zur Kostümierung: Lederjacke und eine Zigarette im Mund. Passend dazu werden James-Dean-Bilder an die Opernwände projiziert. Wenn Castronovo mit der blonden Diana Damrau im rosa-rosigen Petticoat-Kleid vor seinem Mercedes Cabriolet steht und ihr Treue bis zum Tod schwört, tropft der Kitsch förmlich vom Kronleuchter der Bayerischen Staatsoper herunter.
Dass nur Hass und Feindschaft auf der Bühne herrschen, ist dem Libretto von Salvador Cammarano geschuldet. Schade, dass die meisten Sänger fast keine Harmonie beim Spielen finden. Der französische Bass-Bariton und Ehemann Diana Damraus, Nicolas Testé, indes zeigt seinen Kollegen, was Interaktion auf der Bühne bedeutet. Und er überzeugt mit seinem kräftigen und vibratoreichen Bass. Sehr schön sind die Szenen mit seiner Frau Damrau.
Auch kleinere Nebenrollen sind nicht zu verachten. Die türkische Mezzosopranistin Deniz Uzun ist eine große Überraschung. Ihre Stimme ist riesig und sie haftet im Ohr. Von ihr möchte man in Zukunft mehr hören!
Lord Arturo Bucklaw ist der Mann, den Lucia heiraten und damit die Ehre der Familie retten soll. Der italienische Tenor Galeano Salas betritt die Bühne. Seine Stimme ist auf Hochtouren geölt. Das Publikum zollt ihm Respekt, konzentriert sich dann aber wieder auf die herrliche Frau Damrau, die eine Koloratur nach der anderen schmettert.
Wirklich störend waren leider Teile des Publikums. Einem Herrn fällt Geld aus der Tasche während er sich gleichzeitig lautstark die Nase putzt. Ein bisschen mehr Respekt bitte vor dem Hochleistungssport, den die Sänger auf der Bühne abliefern.
Maria Steinhilber, 14. Juli 2017,
für klassik-begeistert.de