Feine Belcanto-Klänge und mörderischer Wahnsinn: Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ überzeugt in der Semperoper Dresden

Gaetano Donizetti, Lucia di Lammermoor,  Semperoper Dresden

Foto © Matthias Creutziger
Gaetano Donizetti, Lucia di Lammermoor,
31. März 2018
Semperoper Dresden

Von Pauline Lehmann

In der Spielzeit 2017/18 hebt sich der Vorhang der Dresdner Semperoper nach 80 Jahren erstmalig wieder für eine szenische Umsetzung von Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“. Als musikalischen Leiter konnte die Sächsische Staatskapelle den Italiener Giampaolo Bisanti gewinnen. Während der Belcanto-Tage war Donizettis Dramma tragico nun mehrmals auf der Bühne der Semperoper zu erleben.

Das Libretto für Donizettis erfolgreichste Oper schrieb Salvatore Cammarano. Seine Dichtung basiert auf Walter Scotts historischem Roman „The Bride of Lammermoor“. Die schottischen Adelsfamilien Ashton und Ravenswood sind in einer blutigen Fehde zerstritten. Lucia Ashton liebt Edgardo, den Erzfeind ihres Bruders Enrico und einzigen Überlebenden der Familie Ravenswood. Um die Ehre ihrer Familie zu retten und den Bruder vor dem finanziellen Ruin zu bewahren, soll Lucia entgegen ihrem Willen den einflussreichen Arturo Bucklaw heiraten. Regisseur Dietrich W. Hilsdorf überrascht mit zwei dramaturgischen Veränderungen: Der Kaplan Raimondo Bidebent ist Lucias älterer Bruder. Die Rolle der Kammerzofe schreibt Hilsdorf der verstorbenen Lady Ashton zu. Lucia wird von ihrer toten Mutter heimgesucht.

Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ vereint heitere, schöne Melodien getragen von Streichern und Holzbläsern mit einer tieftragischen Geschichte. Die Sächsische Staatskapelle zaubert einen warmen, italienischen Klang. Giampaolo Bisantis Dirigat ist dynamisch und kraftvoll, aber keinesfalls aufdringlich. Es gelingt ihm, das Zusammenspiel von Orchester, Chor und Solisten präzise aufeinander abzustimmen. Während der ersten beiden Bilder dominiert das Orchester an manchen Stellen.

Hilsdorf gibt Donizettis Musik den Vortritt und verzichtet auf große, überschwängliche Szenen. Er bedient sich nicht dem schottischen Klischee mit Karomuster, sondern lässt farbliche Kontraste wirken. Das blendend weiße Bettlaken, Lucias Hochzeitskleid und Raimondos blutrote Bibel stechen dem Publikum ins Auge. Johannes Leiacker beschränkt sich auf wenige, fast symbolische Requisiten. Der Auftritt des Hundes bei den Chorszenen sowie der alte Mann, der am Bühnenrand entlang geht und seine Krücke verliert, bleiben Hilsdorfs Geheimnis. Stühle sind in der Semperoper fast schon ein Kultobjekt.

Ein schwarzer Schleier bedeckt die Bühne. Das seitliche Porträt einer Frau mit leuchtend purpurfarbenen Lippen und die weißen Lettern des Spruches „Mors certa hora incerta“ – „Der Tod ist gewiss, die (Todes-)stunde ist ungewiss“ bilden einen einprägsamen Kontrast zu dem unendlichen Dunkel der Bühne. Hilsdorf zieht das Publikum mit wenigen Mitteln in den Bann der „Lucia di Lammermoor“.

Die Bühne gibt einen großen schwarzen Raum mit vertikal aneinandergereihten Neonröhren zu erkennen. Die Sächsische Staatskapelle spielt die Dramatik der Oper bereits in der Ouvertüre aus. Das erste Bild wirkt wie ein Strafgericht gegenüber Lucia. Hilsdorf stellt die familiären Kräfte, die gegen Lucia wirken und sie immer mehr isolieren, eindringlich dar. Alle Augen sind auf Lucia gerichtet. Die Mutter der Familie Ashton steigt aus dem aufgedeckten Sarg. Der russische Tenor Aleksei Isaev verdeutlicht Enricos Übermacht gegenüber Lucia und überzeugt auch stimmlich.

Lucia wartet im Beisein Alisas auf Edgardo. Das Harfensolo begleitet ihre Gedanken feinsinnig und zurückhaltend. In ihrer ersten Arie „Regnava nel silenzio“ erinnert sie sich an eine ermordete junge Frau. Hilsdorf lässt das Publikum an Lucias Gedanken teilhaben. Die Tote erscheint geisterhaft auf der Bühne. Venera Gimadieva offenbart Lucias Gefühlswelt. Nichts wirkt aufgesetzt. Die Koloraturen sind kristallklar und brillant. Die russische Sopranistin füllt die Dramatik der Szene stimmlich und darstellerisch aus. Lucia erzählt von ihrer Liebe zu Edgardo und bricht mit einem wahnsinnigen Lächeln zusammen. Der Anblick dieser entschlossenen jungen Frau ist einer der vielen Gänsehautmomente.

Lucia und Edgardo schwören sich ihre ewige Liebe über dem Spruch „Mors certa hora incerta“. Eine ausdrucksstarke Szene, die keine Worte mehr braucht. Edgaras Montvidas überzeugt mit einer warmen, gefühlvollen Tenorstimme. Zusammen mit Venera Gimadieva bringt er Edgardos und Lucias innige Liebe zum Ausdruck. Lucias und Edgardos Abschiedsduett „Mit den Winden wehen zu dir meine schmachtenden Seufzer“ berührt mit einem harmonischen Stimmklang.

Lucias Hochzeit mit Arturo Bucklaw steht bevor. Die klagende Solo-Oboe äußert Lucias Schmerz. Raimondo führt Lucia zum Altar oder wie sie es selbst nennt, zum Opferaltar. Als Edgardo unerwartet erscheint, bricht Lucia zusammen. Die Hochzeitsgesellschaft bedroht Edgardo in einem immer enger werdenden Kreis. Hilsdorf beeindruckt kurz vor der Pause mit einprägsamen Szenen.

Das grelle Neonlicht flackert unheilvoll und kündigt das musikalische Gewitter an. In der Absicht, sich gegenseitig zu töten, verabreden sich Edgardo und Enrico zu einem Duell zwischen den Gräbern der Ravenswoods. Raimondo verkündet der Hochzeitsgesellschaft Arturos Tod. Auf Georg Zeppenfelds Solo-Part antwortet das Publikum mit Bravo-Rufen.

Lucias weißes Kleid ist blutbefleckt. Den Dolch hat sie immer noch in der Hand. Die Hochzeitsgäste erstarren vor Schreck und werden zu den stummen Zeugen eines Mords. Hilsdorf schafft ein groteskes Bild, das in keiner Weise gestellt wirkt. Lucia erscheint wie aus einer anderen Welt. Sie schwelgt im Wahnsinn zwischen Liebe und Mord. Eine Glasharmonika – wie ursprünglich von Gaetano Donizetti vorgesehen – begleitet Lucias „Wahnsinnsarie“. Venera Gimadievas klarer Sopran und der sphärische Klang der Glasharmonika machen Lucias Arie zu einem eindrucksvollen Erlebnis. Das Publikum hält seine Begeisterung nicht zurück und bricht fast noch im letzten Ton in Beifall aus.

Der Chor verkündet aus dem Hintergrund Lucias baldigen Tod. Eine Welt ohne Lucia ist für Edgardo nicht lebenswert. Edgaras Montvidas übermittelt Edgardos Klage eindringlich und verhalten. Edgardo erdolcht sich, um mit Lucia im Himmel wieder vereint zu sein. Ein Cello-Solo begleitet den sterbenden Edgardo. Es bleibt nur das unendliche Dunkel der Bühne und der schwache Schein zweier Kerzen. Das Publikum dankt mit viel Beifall und stehenden Ovationen.

Pauline Lehmann, 8. April 2018, für
Klassik-begeistert.de

Musikalische Leitung Giampaolo Bisanti
Inszenierung Dietrich W. Hilsdorf
Bühnenbild Johannes Leiacker
Kostüme Gesine Völlm
Licht Fabio Antoci
Choreinstudierung Cornelius Volke
Dramaturgie Juliane Schunke
Raimondo, Lucias Bruder Georg Zeppenfeld
Lord Enrico Ashton, Lucias Bruder Aleksei Isaev
Miss Lucia Ashton Venera Gimadieva
Alisa, Mutter Susanne Gasch
Sir Edgardo di Ravenswood Edgaras Montvidas
Lord Arturo Bucklaw Patrick Vogel
Normanno, Hauptmann Sergiu Saplacan
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden
Glasharmonika Philipp Marguerre

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