Händels Oratorium "Der Messias" in München: Neu und aufgeladen, denn er wird inszeniert!

Georg Friedrich Händel, Der Messias,  Gärtnerplatztheater München, 10. Oktober 2019 (Premiere)

Foto: © Marie-Laure Briane
Das Konzept der künstlerischen Fusion vom gespielt-gesprochen-getanztem Oratorium geht für mich auf. Das ist spannend und erfüllend, ich entdecke – auch mich selbst – ein kleines Stückchen neu. Was wollte ich von Kunst mehr erwarten? Jetzt habe ich eine Vorstellung – erlebt!

Gärtnerplatztheater München, 10. Oktober 2019 (Premiere)
Georg Friedrich Händel, Der Messias

von Frank Heublein

Ich hatte keine Vorstellung von dem, was mich da erwartete. Keine Vorstellung von der Vorstellung zu haben: finde ich gut. Ich erhalte mir dadurch einen offenen Blick, ein offenes Ohr. Durchdacht, gekonnt ist dieses Unterfangen. Sein Schluss begeistert mich zutiefst.

Wenn bei einer Vorstellung, noch dazu einer Premiere, der Intendant vor Beginn der Vorstellung erscheint, ist das ein schlechtes Zeichen. Tenor Alexandros Tsilogiannis hat keine Stimme, spielt jedoch. Die Stimme leiht ihm aus dem Orchestergraben Caspar Singh vom Opernstudio der Bayerischen Staatsoper „nebenan“. Für Tsilogiannis persönlich ist das schade, als Zuseher und Zuhörer finde ich persönlich: die beiden haben die schwierige Situation hervorragend gemeistert!

Wie kommt man auf den Gedanken ein Oratorium zu inszenieren? Eine schlüssige Motivation erschließt sich mir aus dieser Stelle des Programmhefts:

„Der »Messias« ist also keine Vertonung des Lebens Jesu, sondern vielmehr eine durch den musikalischen Ausdruck emotional gesteigerte Auseinandersetzung mit dem Thema des Erlösers“(Programmheft „Der Messias“, Fedora Wesseler „Händel erfindet sich neu“ S.20).

Händel ist mit seinem Messias sehr pragmatisch umgegangen. Er schrieb ihn entsprechend der zur Verfügung stehenden Musiker und Solisten mehrfach um.

Aus diesen zwei Bausteinen entsteht die innovative Idee, die Musik in Szene zu setzen: Zum einen folgt man Händels Praktiken, wenn man die Musik auf „vorhandene“, handelnde Personen verteilt. Zum anderen stellt eine Inszenierung eine äußerst starke, im Wortsinn reizvolle emotionale Steigerung dar. Neben den spielenden Solisten und dem spielenden Chor wird die Emotionalisierung durch den Einsatz der Ballettcompagnie wunderbar verstärkt.

Blieb für die Macher die Frage offen: das Oratorium ist nicht handlungsorientiert, was also soll da auf der Bühne passieren? Die Antwort ist eine gute kluge. Sie nutzen Texte Colm Tóibins aus »Marias Testament« als „ergänzendes Libretto“. Maria spricht, in persona mit kraftvoller Präsenz hervorragend auf die Bühne gebracht von der Schauspielerin Sandra Cervik. So entsteht der essenzielle, mitreißende und aktuell aussagekräftige inhaltliche Treiber der Geschichte.

Diese Geschichte ist die der Maria als Jesus‘ Mutter, die sich – selbst in den letzten Lebenszügen befindend – an ihren Sohn und ihrer beider Leidensgeschichte erinnert.

Diese Fusion von Musik und Handlung, sie gelingt für mich. Es erschließt sich mir ein neuer musikalischer Raum des Messias. Die Handlung ist modern. Sie zeigt, wie radikal die Öffentlichkeit Jesus zuerst als „Vorzeigeobjekt vergöttert“, prägnant inszeniert durch das Herumreichen des Babys. Auf der Bühne ist das eine Balletttänzerin, die als Maria dem Baby durch die Massen nachjagt. Alsbald jedoch wird der „Gesalbte“ (die direkte Übersetzung des Begriffs Maschiach = Messias aus dem Hebräischen) zum Buhmann. Er wird ausgegrenzt. Zuerst psychisch, später dann physisch gemobbt und körperlich misshandelt, mit dem furchtbaren Ende des folternden Todes am Kreuz.

Die kreierte neue Rollenverteilung auf zwei „handelnde“ Soprane, einen Mezzosopran, einen Countertenor, einen Tenor und einen Bass(bariton) gelingt, die Musik des Messias‘ wird handlungshomogen. Die Stimmen harmonieren auf sehr gutem Niveau. Ein großes Lob spreche ich dem Orchester aus. Chefdirigent Anthony Bramall lässt sein Gärtnerplatzorchester fein und differenziert erklingen. Ihm gelingt es ganz besonders gut, diese Musik bühnentauglich zu gestalten.  Die spielenden Solisten müssen nicht gegen das Orchester ansingen, sondern werden ganz im Gegenteil von ihm getragen. Herausragend, da von Grund auf neugestaltet, denn eine solche Abstimmung mit der Bühne ist im Oratorium so ja nicht verankert!

Als Detail nenne ich die Interpretation des wohl bekanntesten Stücks aus dem Messias, das Hallelujah. Ich habe das tosend und stürmend im klingenden Kopf. Das kann so nicht klappen hier. Der Chor verteilt auf der Bühne, so „schlagend“ gesungen, passte es für mich auch nicht zur erzählten Geschichte. Ja! Es ist ganz anders: differenziert, gezügelt. So fügt sich das Hallelujah als gelungenes Puzzlestück ein ins Ganze.

Im ersten Teil der Inszenierung springt bei mir der Funke nicht über. Einige Massen-Volks-Szenen scheinen mir Endlosschleifen, die durch die zeitliche Länge der musikalische Vorgabe erzwungen werden. Der Sohn – der Name Jesus wird niemals genannt – wird (stumm) getanzt von  David Valencia. Eine fantastische Leistung der Leidensdarstellung. Chapeau!

Nach der Pause ist der Funke da, ich bin entzündet. Wunderbarerweise steigert sich meine emotionale Hingabe stetig. Hin und weg bin ich bei Mária Celengs Arie „If God be for us, who can be against us?”. Sie singt feingliedrig, mit kontrollierter Kraft. Das berührt mich sehr! Der Chor setzt danach noch einen drauf. Mit “Worthy is the Lamb that was slain” setzt er einen sehr berückenden und auch inszenatorisch – unterstützt durchs Ballett – wunderbar gelungenen Schlusspunkt. Verdienter langanhaltender Applaus (die Applausordnung müssen sie noch üben ;).

Das ist ein neuer unentdeckter Weg. Ich danke dem Gärtnerplatztheater! Die große Leistung dieses Messias ist die in mir entstehende Empathie zu den im Zentrum stehenden Menschen. Maria und Jesus werden mir menschlich sehr nah gebracht. Und alle künstlerischen Bestandteile – Orchester, Solisten, Chor, Ballett – verschmelzen zu einer Einheit! Das Konzept der künstlerischen Fusion vom gespielt-gesprochen-getanztem Oratorium geht für mich auf. Das ist spannend und erfüllend, ich entdecke – auch mich selbst – ein kleines Stückchen neu. Was wollte ich von Kunst mehr erwarten? Jetzt habe ich eine Vorstellung – erlebt!

Frank Heublein, 11. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Musikalische Leitung Anthony Bramall
Choreinstudierung Felix Meybier
Regie Torsten Fischer
Choreografie Karl Alfred Schreiner
Bühne / Dramaturgie Herbert Schäfer
Maria, eine Mutter Sandra Cervik
Ihr Sohn David Valencia
Timos, ein Politiker Timos Sirlantzis
Jennifer, seine Frau Jennifer O’Loughlin
Alexandros, ein Politiker Alexandros Tsilogiannis/ Caspar Singh
Mária, seine Frau Mária Celeng
Dmitry, ein Fremder Dmitry Egorov
Anna-Katharina, eine Frau Anna-Katharina Tonauer
Ballett des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Chor des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz

Ein Gedanke zu „Georg Friedrich Händel, Der Messias,
Gärtnerplatztheater München, 10. Oktober 2019 (Premiere)“

  1. Endlich eine positive Kritik. Wir haben am Mittwoch die Inszenierung gesehen und waren total emotional berührt. Umso geschockter im Nachhinein die durchweg schlechten Kritiken von der Süddeutschen Zeitung und B3 zu lesen. Gott sei Dank haben wir diese nicht vorher gekannt. Das hätte uns womöglich vom Kauf der Karten abgehalten.

    Karin Pugell

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