Elbphilharmonie, Hamburg, Live-Stream, 16. Mai 2021
Fotos: Maxim Schulz ©
Rezension des Videostreams vom Internationalen Musikfest Hamburg „Israel in Egypt“
von Frank Heublein
Das Internationale Musikfest Hamburg ist 2021 völlig digital organisiert. Am Sonntag ist Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar-Neumann-Ensemble zu Gast in der Elbphilharmonie Hamburg. Es erklingt Georg Friedrich Händels Oratorium „Israel in Egypt“.
Es schaut klein aus, das Ensemble, auf dieser großen Bühne aus der Deckentotale der Kamera heraus. Keine 40 Orchestermitglieder, der Chor besteht aus 32 Personen. Das letzte Mal live habe ich das Stück in viel größerer Personalstärke gesehen und gehört. Mein erster Eindruck wird mit dem allerersten – und allen weiteren Tönen an diesem Abend – flugs weggewischt.
Thomas Hengelbrock startet die Sinfonia mit einem kraftvollen geradezu saftigen Klang. Fulminant, präsent, agil. Vom ersten Ton weg werde ich eingefangen, hänge geradezu an Saiten, Lippen und Mundstücken.
Früh im ersten Teil „Exodus“ (Auszug aus Ägypten) bitzelt es mir erstmals den Rücken entlang, wenn der Chor die Zeile „They oppressed them with burdens“ (Sie peinigten sie mit schweren Bürden) singt. Dramatische Langsamkeit gepaart mit einer mit Händen zu greifenden Spannung. Unglaublich präziser Chorklang. Der Vorteil eines stimmenanzahlmäßig kleinen Chores, der gleichwohl auch im Forte stets wunderbare Kräftigkeit und Klangfülle ausstrahlt.
Welch stimmliches Potenzial der Chor hat, zeigt sich in den solistischen Partien, die allesamt von Chormitgliedern gesungen werden. Chor- und Sologesang haben unterschiedliche Anforderung. Im Chor müssen die Stimmen gleichmäßig sein, um einen gemeinsamen Klang einer Chorstimme zu erzeugen. Bei den Solopartien muss die Stimme einzeln Dynamik entwickeln und die kompositorischen „Schwierigkeitsgrade“ allein bewältigen.
Countertenor Matthias Lucht zeigt das in der ersten Alt-Arie des Stücks „blotches and blains broke forth on man and beast“ (Geschwüre und Eiterblasen brachen aus Mensch und Vieh heraus). Anschaulich gepaart mit schauspielerischem Können, die die genannte Liedzeile mir auch optisch überträgt.
Dass die Solisten Teil des Chores sind, hat einen weiteren Vorteil. Die Übergänge der einzelnen Nummern sind schnell auszuführen. Ein aus meiner Sicht wichtiges Detail, was die Gesamtspannung des Stückes so hoch hält, wie ich sie hier empfinde.
Dynamik durchwellt Orchester und Chor. Ein Prestissimo in forte. Der Ton bleibt klar, wohlgeformt. In dieser Schnelligkeit wunderbar präzise und klar. Ich koste es aus so gut es geht, denn einem mich faszinierenden Klang nachhängen, das klappt heute nicht. Der Grund heißt Thomas Hengelbrock. Er lässt mich während des gesamten Stücks nicht ein einziges Mal von seiner musikalischen Leine, der ich willig folge. Großartig, wie Hengelbrock ein gegensätzliches leises Lento unmittelbar folgen lässt. Der Chor singt still und ruhig. Meine Stimmung schwingt um, doch die Spannung in mir, die Aufmerksamkeit auf den Moment und den, der folgt, ist maximal und nimmt am heutigen Abend zu keinem Zeitpunkt ab.
Erneut setzt das Orchester druckvoll ein, wieder ein spürbarer Gegensatz, der präzise die Teile voneinander trennt, ohne dass ich meine musikalische Linie verliere, im Hören ins Stocken gerate. Der Chor singt „the chief of all their strength.“ (die Quelle all ihrer Stärke.) einmal Wort für Wort, dazwischen mit merkbarer Pause. Welch Intensität des Ausdrucks. Das versetzt mich in atemlose Spannung.
Die dynamischen Gegensätze, die Hengelbrock in der Aufführung herausarbeitet, werden von Orchester und Chor brillant bewältigt. Der Chor beschert mir ein zweites Rückenbitzeln im den ersten Teil abschließenden „and believed the Lord and His servant Moses.“ (Und es glaubte an den Herrn und an Seinen Diener Moses.) Die Zeile wandern durch die Chorstimmen und unmerklich formiert er sich mit einer würde- und weihevollen Gesamtstimme, die mir als Hoffnungsstrahl im Ohr erklingt.
Der zweite Teil, „Moses“, beginnt festlich. Das folgende Sopranduett “The Lord is my strength and my song; He is become my salvation.” (Der Herr ist meine Stärke und mein Lied; er ist meine Rettung geworden.) ist fein abgestimmt und vollkommen koordiniert gesungen von Heike Hellmann und Anna Terterjan.
Die folgenden Chorstücke zeigen einmal mehr die „Schnittgenauigkeit“ der Crescendi, die ins Ruhige absinken. Trotz dieser schroffen Prägnanz verliert das Ganze niemals den klanglichen Zusammenhalt. Dem Bassduett „The Lord is a man of war” (Der Herr ist ein Krieger) ist eine Art Vorspiel vorangestellt, in dem das Orchester aufleuchtet mit präzisem eleganten Schwung. Die beiden Bässe Andrey Akhmetov und Thilo Dahlmann haben unterschiedliche Nuancen, einer klarer, einer sonorer. Die beiden Stimmen ergänzen sich in diesem Duett für mich sehr gut.
Im nachfolgenden Chorstück fasziniert mich einmal mehr, welch klarer präziser Klang dem Chor gelingt. Der äußert sich auch in der guten Verständlichkeit des Textes, selbst bei den langgezogen gesungenen Silben.
Bei Tenor Mirko Ludwigs Solo ist das Orchester im wahrsten Sinne des Wortes treibende Kraft. Das Solo von Sopran Bobbie Blommesteijn und das Duett von Tenor Jakob Pilgram mit Counter William Shelton sind ruhiger, sprechen mir Zuversicht und Mut zu. Für alle drei wie für alle anderen gilt: so souverän der Chor als Ganzes agiert, so souverän agieren die hervortretenden Chormitglieder des Balthasar-Neumann-Chors in ihren solistischen Parts.
Das Orchester ist herrlich präsent. Es schafft mich fesselnde dramatische Spannung in den Gegensätzen von basswummernden Forte und unmittelbar folgenden zarten Piano. Auf dem Fuß folgt der nächste Stimmungsumschwung in mir, wenn vom Vordrängenden der Chor ins für mich Geheimnisvolle schwenkt mit „till Thy people pass over“ (bis Dein Volk durchgezogen ist). Diesem Geheimnis Zeit, Raum und Ruhe gibt.
Die nachfolgende Altarie „Thou shalt bring them in“ (Du wirst sie hinbringen) singt Counter Terry Wey. Welch Wärme und zugleich Klarheit in den Höhen in der Stimme!
Hinein geht es in die Schlusssequenz, die musikalisch festlich strahlt. Im abschließenden „Sing ye to the Lord“ (Singt zu dem Herrn) setzt Sopran Anna Terterjan stimmlich den hellsten Strahl ab mit der Zeile „for He hath triumphed gloriously.“ (denn er hat ruhmreich gesiegt).
Am Ende spricht Dirigent und Ensemblegründer Hengelbrock aus, was mir wegen Saalferne auf der Zunge liegen bleiben muss: Bravo! Spannung, Kompaktheit, Präzision, Klarheit, Prägnanz, die Kunst der stimmungsvollen Gegensätzlichkeit. All das durch durchweg großartige Musiker und Musikerinnen interpretiert, die mich gute 80 Minuten gebannt und fasziniert in den musikalischen Bann ziehen. Ich bin erfüllt und beglückt, diesen Moment miterlebt zu haben.
Sie haben ein ganzes Jahr die Gelegenheit, in der ARTE Mediathek, diese Augen- und Ohrenweide der Barockmusik anzuhören. Ich werde es bestimmt und nicht nur einmal tun. Oder wird es gar einen Konzerttermin geben, den ich wahrnehmen kann? Welch wunderbare Vorstellung!
Frank Heublein, 17. Mai 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Georg Friedrich Händel (1685–1759)
Israel in Egypt HWV 54 / Sinfonia, Exodus, Moses (1738)
Besetzung
Balthasar-Neumann-Chor und -Solisten
Balthasar-Neumann-Ensemble
Leitung Thomas Hengelbrock
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