Semele 2023, B. Rae © M. Rittershaus
Prinzregententheater, München, 15. Juli 2023
Im Festspielsommer der Bayerischen Staatsoper wird traditionell eine barocke Oper auf die Münchner Bühne des Prinzregententheaters gebracht. Dieses Jahr wird mit Semele von Georg Friedrich Händel ein dramatisches Oratorium auf ein weltliches Thema aufgeführt. Die Komposition ist also nicht auf szenische Aufführung angelegt. Händel selbst führte es ausschließlich konzertant auf. Inhaltlich greift Händel auf eine Geschichte aus Ovids Metarmophosen zurück, deren „Ergebnis“ der Gott Dionysos ist. Das Libretto hat William Congreve Anfang des achtzehnten Jahrhunderts auf Englisch geschrieben.
Münchner Opernfestspiele 2023
SEMELE
Komponist Georg Friedrich Händel. Libretto nach William Congreve.
Oper nach Art eines Oratoriums (1743)
empfohlen ab 15 Jahren
Eine Koproduktion mit der Metropolitan Opera, New York
In englischer Sprache. Mit Übertiteln in deutscher und englischer Sprache. Neuproduktion.
von Frank Heublein
Sopranistin Brenda Rae verkörpert und singt die Titelrolle Semele. Eine schwere Rolle, denn Semele hat einen hohen Gesamtgesangsanteil. Mit ihrem warmen in den Höhen sicherem Sopran und ihren ausdrucksvollen präzisen Koloraturen vermag sie das Premierenpublikum zu begeistern. Technisch singt Brenda Rae hervorragend und doch vermisse ich an einigen Stellen das Körperreiche, das die Stimme die Entschiedenheit vermittelt, mit der sich Semele gegen die Hochzeit mit Athamas stemmt, und mit der sie unbedingt Jupiter in göttlicher Gestalt zu sehen wünscht. Schauspielerisch überzeugt sie mich mit der Axt in der Hand. Damit haut sie ein großes Loch ins Hochzeitspappgemäuer. Ein handfester Einsatz, den ich sehr genieße.
Tenor Michael Spyres in der Rolle des Jupiter ist wie alle Götter in diesem Stück erst im zweiten Akt aktiv. Seine Stimme hat doppelte Tiefe, emotional und technisch. Spyres ist kein Schmalhans, seiner Körperbeweglichkeit tut das keinen Abbruch. Er überrascht mit einer „und hoch das Bein“ Cabaret-Tanzeinlage zusammen mit seinen Liebesgöttern und Zephyren, durch die er Semele vom Wunsch ablenken will, sich Göttlichkeit zu wünschen. Das Premierenpublikum johlt. Schauspielerisch und sängerisch eine hingebungsvolle Leistung.
Countertenor Jakub Józef Orliński gibt den Athamas. Er kann richtig gut tanzen, genauer streetdancen. Auch damit versetzt er das Publikum nach Spyres Tanzeinlage ein weiteres Mal in Ekstase. Auch, denn stimmlich ist Counter Orliński mit einem großen Tonumfang gesegnet. Im zweiten Akt „übernimmt“ er die Sopran-Arie des Cupid.
Ich habe selten eine so perfekt und zugleich elegant leicht gesungene Sopranarie von einem Counter gehört. Das Rezesententeufelchen in mir fragt sich einen Moment lang, ob mir das zu clean, zu perfekt, zu wenig menschlich daher kommt. Würde das Teufelchen die Oberhand gewinnen, wäre es ein Sieg des Neides. Das Engelchen gewinnt: dieser Mann singt perfekt! Schauspielerisch, jenseits des Streetdance, kann er an seinem Nuancenreichtum arbeiten. Szenisch scheint mir die Rolle lustig angelegt. Athamas soll ein bisschen „der checkt es einfach nicht“ rüberkommen. Im ersten Akt gelingt ihm diese komödienhafte Kunst nur mäßig.
Ino, die Schwester von Semele, ist in Athamas verknallt. Mezzosopranistin Nadezhda Karyazina übernimmt diese für Alt geschriebene Rolle. Ihr schauspielerisches Talent zeigt sie im ersten Akt als beleidigte Leberwurst. Zu viel könnte man meinen. Für mich liegt’s am eher verhaltenen Agieren ihrer Mitsänger und Mitsängerinnen. Ihr Duett mit Athamas im ersten Akt „You’ve undone me“ (Du hast mich vernichtet) gelingt wunderbar, zwischen den beiden ist eine schöne stimmliche Harmonie. Interessanterweise singt Athamas dabei stimmlich höher als Ino. Als Mezzo hat Karyazina das warme Timbre, um die Tiefen des Alts wohlig auszuloten.
Mezzo Emily D’Angelo ist die sexiest Juno alive. Ich persönlich frage mich, warum in aller Welt Jupiter diese Frau stehen lässt für Semele. Einen klaren Hinweis gibt es: ihre Eifersucht lässt sie immer! Immer! – siehe „La Calisto“, in dieser Spielzeit ebenfalls zu sehen an der Bayerischen Staatsoper – an den armen Geliebten Jupiters aus. Dabei arbeitet sie kreativ. Sie singt die Eifersucht lebensecht fies und sehr gekonnt. Die Altpartie hat sie technisch perfekt im Griff, die schönste Szene ist die mit Somnus, in der sie die geradezu diabolische Kraft stimmlich wie schauspielerisch atemberaubend gut verkörpert. Steht sie nicht am vorderen Bühnenrand, fehlt ihr zuweilen das stimmliche Volumen, um diese zerstörerische Energie gänzlich in mich hineinzusingen. Juno missbraucht Ino als Gestalt, um Semele einzuflüstern, Jupiter in seiner göttlichen Gestalt sehen zu wollen. Semeles Todesurteil.
Sopranistin Jessica Niles singt Iris, die Helfershelferin der Juno. Als Eigengewächs entstammt sie dem Opernstudio des Hauses. Stimmlich wie schauspielerisch ein leuchtender Stern. Ein klarer leuchtender Sopran. Und sie hat das Komödiantische voll drauf. Etwa wenn Somnus im Erwachen seine Umgebung einschläfert und auch Iris wegdämmert. Ob ihrer auszehrenden Aufgabe muss sie sich ständig Energydrinks einwerfen. Ein Auftrag: aufzudecken, wohin Jupiter Semele gebracht hat. In „Iris, impatient of thy stay“ (Iris, ungeduldig über dein Ausbleiben) liefert Jessica Niles mit Juno alias Emily D’Angelo Anfang des zweiten Aktes eins der beiden schönsten und in diesem Fall wunderbar ausgedehnten Duette des Abends. Das andere singen Ino und Athamas.
Der Chor hat in dieser Inszenierung schauspielerische Aufgaben, etwa als Hochzeitsgemeinschaft. So überzeugt der Chor Lauschwerk nicht nur sängerisch vollständig, sondern auch in der physischen Präsenz.
Dirigent Gianluca Capuano gelingt ein musikalisch dynamisch abwechslungsreicher erster Akt. Dicht, strukturiert, klar. Im zweiten und dritten Akt fehlen mir die letzten Quäntchen Spannung und Dynamik, welches die handelnde Szenerie wie ein stetigen Strom vorantreibt. Die Sängerinnen und Sänger haben für mich im Vergleich mit dem Orchester ungewohnt großen Anteil an der musikalischen Stabilität der Szenen. Klanglich erzeugt das Bayerische Staatsorchester einen schönen runden warmen Ton.
Die „Inszenierung“, es gibt eine Hochzeitsplanerin, der Hochzeit aus dem ersten Akt wird im dritten Akt exakt (!) wiederholt. Das ist eine klare Handlungsklammer. Sie langweilt mich im dritten Akt auf der Länge, denn sängerisch passiert nichts mich dramatisch Einfangendes. Es plätschert dahin – was ich eher Händel anlaste als allen, die den Stoff für diesen Abend bearbeitet haben. Händel hat dieses Werk innerhalb von nur vier Wochen im Juni 1743 auskomponiert. Krass. Regisseur Claus Guth erzeugt schöne Räume. Einen weißen Hochzeitsraum im ersten und dritten Akt. Im zweiten dann einen mit schwarzen Lianen ausgestatteten überirdisch sphärischen düster mit Videoinstallation atmosphärisch dicht aufgeladenen.
Was ich schade finde in der dargestellten Handlung des dritten Akts: DAS Highlight fällt mir gar nicht auf. Semele hat das Göttliche Jupiters geschaut und stirbt in „Ah me! Too late I now repent“ (Weh mir! Zu spät bereue ich nun). Ein für mich unverständlich unauffälliger Theatertod. Denn das Kind dieser Liaison zwischen Jupiter und Semele wird im Oberschenkel Jupiters ausgetragen. Es ist der Gott Dionysos, der Gott des Rausches. Ohne den zu leben wär sehr fad.
Das Publikum feiert begeistert alle Protagonisten. Ich meine, beim Regieteam einige wenige Buhrufe zu hören, die sofort im entfesselten Klatschgetrampel untergehen. Für mich ist es ein sehr unterhaltsamer, wenngleich nicht überwältigender Abend. Viel Licht, das Ensemble überzeugt als Ganzes. Doch auch ein klein wenig Schatten. Barockfans sollten sich schon allein ob Orlińskis Counterperfektion diesen Abend nicht entgehen lassen.
Frank Heublein, 16. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm
Semele, ursprünglich The Story of Semele (1743, UA konzertant 1744, UA szenisch 1925)
Oratorium in drei Akten von Georg Friedrich Händel
Besetzung
Musikalische Leitung Gianluca Capuano
Inszenierung Claus Guth
Bühne Michael Levine
Kostüme Gesine Völlm
Licht Michael Bauer
Video rocafilm
Choreographie Ramses Sigl
Choreinstudierung Sonja Lachenmayr
Dramaturgie Yvonne Gebauer, Christopher Warmuth
Semele Brenda Rae
Jupiter Michael Spyres
Apollo Jonas Hacker
Athamas Jakub Józef Orliński
Juno Emily D’Angelo
Ino Nadezhda Karyazina
Iris Jessica Niles
Cadmus/Somnus Philippe Sly
Hohepriester Milan Siljanov
Chor LauschWerk
Bayerisches Staatsorchester
Statisterie und Kinderstatisterie der Bayerischen Staatsoper
Opernballett der Bayerischen Staatsoper
Georg Friedrich Händel: Giulio Cesare in Egitto Oper Leipzig, Premiere, 1. April 2023
Georg Friedrich Händel: „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ Philharmonie Berlin, 9. März 2023
Georg Friedrich Händel: Belshazzar Museumsquartier (MusikTheater an der Wien), 24. Februar 2023