Unbestritten war Star des Abends Joyce DiDonato, die in „Theodora“ an der Londoner Royal Opera als Irene brillierte und einmal mehr ihre offenbar grenzenlose Vielseitigkeit unter Beweis stellte. Händels Oratorium in drei Akten war nicht als Bühnenstück gedacht – aber die Regisseurin Katie Mitchell, angeblich von feministischen Motiven beseelt, meisterte die szenische Umsetzung dieses anspruchsvollen Werkes hervorragend. Ein mehr als dreistündiger Marathon für die durchwegs hervorragenden Sängerinnen, Sänger und Publikum – aber eine Rarität auf der Opernbühne, und in höchster Qualität, wie man es denn auch in Covent Garden nicht anders erwartet.
Royal Opera House London, 7. Februar 2022
Georg Friedrich Händel, „Theodora“, Libretto: Thomas Morrell. Oratorium in drei Akten.
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Foto)
Keine leichte Aufgabe, ein Oratorium szenisch so auf die Bühne zu bringen, dass nicht nur ein akustisches sondern auch ein optisches Erlebnis entsteht, das der erheblichen Länge dieses Werks standhält. Dem Publikum und vor allem den Darstellern wird viel abverlangt und die Längen in der zwar wunderschönen, aber passagenweise doch als eher repetitiv empfundenen Musik Händels, die meist mühsamen Texte (die man als Zuschauer sehr rasch ignoriert) und die bisweilen zähe, pathetische Handlung verlangen allen Beteiligten – diesseits, jenseits und im Orchestergraben – einiges ab.
Die Handlung wurde aus dem Alten Rom in die Jetzt-Zeit, in ein Hotel aus den 60er Jahren mit einem großen Speisesaal von bewusst öd-beigem 60er-Jahre Design (Bühne: Chloe Lamford) verlagert. Das Bühnenbild, auf einem Wagen montiert, ließ sich in beide Richtungen bewegen, was den Effekt eines Film-Schwenks bot und erfolgreich der gelegentlich aufkommenden Monotonie in Handlung und Musik entgegenwirkte.
In dem Speisesaal zelebrierte Valens, der Botschafter Roms, ein Opfer für Jupiter, doch die anwesenden Frühchristen (das Personal in diesem Gastbetrieb, schwarz gekleidet mit violetten Arbeitsschürzen – Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen) widersetzen sich standhaft dem Götterkult. An ihrer Spitze die zur Märtyrerin ausersehene Theodora, die zur Strafe für ihre Weigerung, in die Prostitution gezwungen wird. Links neben dem Speisesaal befindet sich ein Bordell ganz in Rot, komplett mit zwei Stripperinnen, Pole-Dancing, daneben ein Raum mit überdimensioniertem Bett. Rechts neben dem Speisesaal eine vollständig ausgestattete Großküche, indem Theodora mit ihren Gesinngsfreundinnen eine für Valens gedachte Bombe bastelt. Und rechts neben der Küche ein großer Gefrierraum, komplett mit eisigen Nebelschwaden, Ventilatoren und aufgehängten Schlachttieren – hier sollen Theodora und ihr Geliebter Didymus zur Strafe für ihre Weigerung, Jupiter zu opfern, den Kälte- und Erstickungstod erleiden. Aber daraus wird nichts, das christliche Personal ersticht die Bösewichte mit langen Küchenmessern und befreit unter allgemeinem Jubel die beiden verhinderten Märtyrer. Happy End.
Erst nach fast drei Jahrhunderten
Was sich 1750 in London ereignete, erinnert irgendwie an die Covid-Pandemie und ihre Auswirkungen auf den Kulturbetrieb: Erdbeben in London lösten bei der Bevölkerung Ängste aus, der Stuck fiel von den Gebäuden und das Publikum im West End blieb zu Hause. Ein denkbar schlechter Start für Händel mit seinem großen Werk „Theodora“, trotz dem neuen, strahlenden Castrato für die Rolle des Didymus. Es sollte nicht weniger als 272 Jahre dauern, bis dieses Oratorium wieder an den Ort seiner Erstaufführung zurückkehrte – die heutige Royal Opera Covent Garden.
Die amerikanische Mezzosopranistin Joyce DiDonato begeisterte als Irene, die beste Freundin der Hauptfigur Theodora. Ihre Subtilität in den leisen Passagen war ebenso bewundernswürdig wie die Leichtigkeit und Präzision mit der sie die schwierigen Koloraturen meisterte – und einmal mehr ihrem großen Namen alle Ehre machte. Sie erhielt denn auch als einzige Szenenapplaus, obwohl die Leistungen der anderen Sängerinnen und Sänger durchaus ebenbürtig waren. Die namhafte amerikanische Sopranistin Julia Bullock interpretierte die Titelheldin Theodora mit strahlender Ausdruckskraft in der Stimme und agiler Spielfreude in ihrer überaus dramatischen Rolle. Der polnische Countertenor Jakub Józef Orliński feierte als Didymus ein brillantes Debut am Königlichen Opernhaus. Herausragend der britische Tenor mit tenoralem Schmelz vom Feinsten Ed Lyon als Septimius, mit warmer Baritonstimme der ungarisch-rumänische Sänger Gyula Orendt in der Rolle des Valens. Am Pult des hochmusikalisch agierenden Orchesters der Royal Opera der britische Spezialist für Alte Musik, Harry Bicket, der sowohl an der Met als auch am Theater an der Wien mit großer Präzision den Taktstock führte. Die Chöre leitete der bewährte Amerikaner William Spaulding.
„Intimacy Coordinator“ am Werk
Da es in dieser Inszenierung (und der Handlung) einige heikle Szenen gab, zumal das Bordell und die Prostituierung Theodoras im Zentrum des Geschehens steht und Botschafter Valens stets lustvoll an seiner leicht geschürzten, langbeinigen Begleiterin herumfingerte, stellte man der Regie – in diesen risikoreichen Me-Too-Zeiten besonders empfehlenswert – eine neue Charge zur Verfügung: Den „Intimacy Coordinator“ (bzw. die Koordinatorin) Ita O’Brien. Erstmals in Großbritannien war hier also eine „Intim-Koordinatorin“ am Werk, die dafür zu sorgen hatte, dass sich die Darsteller (-innen) darin nicht unbehaglich oder peinlich berührt fühlen, was die Regie von ihnen abverlangt. Immerhin geht es um Bordell, Prostitution und Vergewaltigung auf dem Tisch des Speisesaals – all dies auf offener Bühne des heutzutage längst nicht mehr so prüden England wie noch in viktorianischen oder Vorkriegs-Zeiten. O’Brien betont, dass der Aspekt der persönlichen Empfindungen der Akteure und Schauspielerinnen bei heiklen Szenen in fast allen Inszenierungen zu kurz komme oder ignoriert werde. Julia Bullock (Theodora) sagt, dass sie in Proben an anderen Theatern oft Klagen von Kolleginnen und Kollegen vernommen habe, dass diese Aspekte vernachlässigt würden – es sei für sie eine ungeheure Erleichterung, dass diese Fragen hier von vorneherein angegangen würden.
Dr. Charles E. Ritterband, 9. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent: Harry Bicket
Chöre: William Spaulding.
Regie: Katie Mitchell
Bühne: Chloe Lamford
Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen
Theodora: Julia Bullock
Irene: Joyce DiDonato
Valens: Gyula Orendt
Didymus: Jakub Józef Orliński
Septimius: Ed Lyon
Marcus: Thando Mjandana
Chor und Orchester der Royal Opera
Koproduktion mit dem Teatro Real, Madrid
Giacomo Puccini,“La Bohème” English National Opera ENO im London Coliseum, 5. Februar 2022,
Georg Friedrich Händel, Agrippina Staatsoper Hamburg, 15. Dezember 2021