Foto: Carmen, Arena di Verona 2022 © Dr. E. Ritterband
Bizets „Carmen“ ist die meistgespielte Oper in der auf das Jahr 1913 zurückgehenden Tradition der Opernfestspiele der Arena di Verona. Auch an diesem Sommerabend, an dem der befürchtete Gewitterregen ausblieb, waren die Steinstufen und das Parterre des römischen Monumentalbaus bis auf den letzten Platz besetzt. Und die Zuschauer sollten auf ihre Rechnung kommen: Eine „Carmen“ wie noch nie.
Georges Bizet, Carmen
Arena di Verona, 27. August 2022
von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)
Als Maestro Marco Armiliato, elegant geleitet von einem Assistenten, mit federnden Schritten das Dirigentenpult betrat, war schon klar: Hier wird sich an diesem Abend nicht nur szenisch sondern auch musikalisch Außerordentliches abspielen. Und so war es auch: Die dynamische und zugleich präzise Stabführung des 1967 in Genua geborenen Operndirigenten holte aus dem umfangreichen Hausorchester der Arena das Allerbeste heraus: Dynamik, Dramatik und Subtilität in den feineren Passagen dieser hochpopulären Oper.
Schon am Vorabend („Turandot“) hatte die spektakuläre Inszenierung des erst vor drei Jahren verstorbenen, international tätigen Film-, Theater- und Opernregisseurs Franco Zeffirelli das Publikum in Atem gehalten und die Zuschauer zu spontanem Szenenapplaus hingerissen – heute war es nicht anders: Diese „Carmen“ war phänomenal, und dies begann bereits mit der Inszenierung:
Der italienische Großmeister Zeffirelli zauberte farbenprächtige Massenszenen auf die riesige Bühne der Arena, wie man sie in dieser Oper noch nie gesehen hatte. Fast zu viel, diese Hunderten prachtvoll kostümierten Statisten/Statistinnen, Choristen/Choristinnen und Tänzer/Tänzerinnen, Stierkämpfer zu Pferde, Lastesel, Pferdewagen, Nebenhandlungen (ein Junge, der offenbar etwas ausgefressen hatte, wird von vier Polizisten im Laufschritt verfolgt) und elegant gekleideten Damen und Herren, die promenieren unter den bewundernden Blicken des einfachen Volkes über die Bühne – fast zu viel dieses so detailreich auf die Bühne der Arena gezauberte Sevilla des 19. Jahrhunderts: Bisweilen hat man Mühe, die Protagonisten, die man zwar hört, aber in dieser ungeheuren Masse nicht so leicht findet, zu lokalisieren. Dennoch: Ein Augenschmaus.
Und ein Ohrenschmaus: Grandios die russische Mezzosopranistin Yulia Matochkina, eine der führenden Solistinnen des renommierten Mariinski-Theaters in Sankt Petersburg in der Titelrolle der „Carmen“. Mühelos erreicht sie – ebenso wie ihre Sängerkolleginnen und -Kollegen – die hintersten Sitze auf den von der Rampe mehrere Hundert Meter entfernten Steinstufen: unverfälschter Natur-Sound, wie immer ohne Mikrofon- und Lautsprecherverstärkung. Die Stimme der Matochkina trägt nicht nur durch den gewaltigen Raum, sie verzaubert in ihrem tiefen, warmen, geschmeidigen Timbre; präzis und doch sehr menschlich, leidenschaftlich und dann wieder (in der Gebirgs- und in der Schlussszene) von unerbittlicher, steinerner Härte.
Als ihr Partner Don José steht ihr der vielgepriesene italienische Tenor Vittorio Grigolo in nichts nach: tenoraler Schmelz, ungehemmte Emotionalität gepaart mit stimmlicher Stärke. Ihm gegenüber mit viriler Stimmkraft und machistischem Auftreten einer der führenden italienischen Baritone, Claudio Sgura, als Escamillo, der die Frauenherzen im Sturm erobert und mit spielerischer Leichtigkeit die wildesten Stiere besiegt („Vittoria“ tönt es im letzten Akt vielstimmig aus der Stierkampfarena).
Die italienische Sopranistin Lavinia Bini gibt ab mit samtener und doch kraftvoller Stimme eine überaus berührende Michaela, deren Figur im Gegensatz zur verführerisch-hexenhaften Carmen die liebende, loyale und gradlinige Frau verkörpert, welche ja auch die Verbindung zur sehnsuchtsvollen und dann sterbenden Mutter Josés darstellt: Sie behält moralisch die Oberhand aber in der nie offen ausgetragenen Rivalität der beiden so verschiedenen Frauen ist sie, die im Gegensatz zu Carmen, mit offenen Karten agiert, hoffnungslos unterlegen.
Ein Stück, das den Zuschauer immer wieder erschüttert, auch wenn man es schon hundert Mal gesehen hat. Doch in dieser epochalen Zeffirelli-Inszenierung mit ihrer musikalischen Perfektion kam noch etwas hinzu:
Die Flamenco-Einlagen von Tänzerinnen und Tänzern der weltberühmten Compañía Antonio Gades in Originalkostümen, die eigens für diese Produktion aus Sevilla nach Verona eingeflogen wurden. Sie leiteten auf beiden Seiten des noch geschlossenen Vorhangs den letzten Akt ein und riefen im 1600-köpfigen Publikum überraschtes Staunen und höchste Bewunderung. Ein unvergesslicher Abend.
Dr. Charles E. Ritterband, 28. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent: Marco Armiliato
Regie und Bühnenbild: Franco Zeffirelli
Carmen: Yulia Matochkina
Michaela: Lavinia Bini
Don José: Vittorio Grigolo
Escamillo: Claudio Sgura
Orchester, Chor und Ballett: Fondazione Arena di Verona
Mit der Ausserordentlichen Beteiligung der Compañía Antonio Gades; künstlerische Leiterin: Stella Arauzo
Plácido Domingo in „Verdi Opera Night“ Arena di Verona, 25. August 2022
Giacomo Puccini „Turandot” Arena di Verona 03. September 2021
Orchester und Dirigent begeistern !
Reinhold Behr
Ich war von der ersten Minute an völlig gefesselt: die Stimmen, die Farben, die Musik, die Tänzer und – für mich – vor allem dieser beeindruckende Chor. Ich sagte nach der Aufführung zu meiner Tochter, dass ich mir nicht vorstellen kann, Carmen jemals woanders zu sehen, weil ich es immer mit dieser Carmen vergleichen würde.
Bianca Peters