Schammis Klassikwelt 1: Meine Gänsehaut-Momente in der Oper

Schammis Klassikwelt 1: Meine Gänsehaut-Momente in der Oper  Klassik-begeistert.de, 28. August 2022

Mit jedem Schlag erlosch eine Stimme aus dem Choral der Karmeliterinnen bis schlussendlich totale Stille herrschte. Dieser Moment der Stille erschien mir unendlich, ja fast unerträglich. Dann klang die Oper mit einigen Takten Orchestermusik aus. Die musikalische und die szenische Darstellung passten perfekt zueinander und berührten mich so sehr, so dass mir plötzlich Tränen über die Wangen liefen. Deshalb warte ich wie süchtig auf meinen nächsten Besuch in der Oper, hoffend, dass ich einen neuen Gänsehaut-Moment erleben darf.

Foto: © Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

von Jean-Nico Schambourg

Oft werde ich nach meiner Lieblingsoper befragt. Die Antwort darauf kann ich so nicht geben, weil über Jahrhunderte so viel wunderbare Musik komponiert wurde, und ich mich zeit meines Lebens an sehr vielen Werken erfreut habe. Meine Antwort ist daher ganz einfach und logisch: die nächste Oper, die ich mir anhören / ansehen werde.

In meinen vielen Jahren als Opernbesucher stechen trotzdem einige Momente besonders hervor: jene, bei denen ich heute noch Gänsehaut bekomme, wenn ich sie mir in Erinnerung rufe.

Meine erste Oper in einem der großen Opernhäuser war Puccinis “Bohème” an der Wiener Staatsoper gesungen von Mirella Freni und Luciano Pavarotti unter der Leitung von Carlos Kleiber. Das war eine nicht zu übertreffende Aufführung in ihrer Gesamtheit und ich hätte damals aufhören können, weiterhin in die Oper zu gehen!

Gott sei Dank tat ich dies nicht und so habe ich noch viele großartige Opernaufführungen erlebt. Manchmal war es nur ein bestimmter Moment in der Oper, der diesen Abend zum Erlebnis machte.

Ich will heute über drei besondere Momente berichten, die den Abend für mich zu einem unvergessenen Hörerlebnis machten, zwei davon erlebt an der Mailänder Scala:

Da war zunächst ein umstrittener “Ballo in maschera” von Verdi im März 1987. Einige Umbesetzungen hatten den Abend arg durcheinander gerüttelt. Der Dirigent Gianandrea Gavazzeni wurde von den Zuschauern der oberen Rängen beschimpft mit Zwischenrufen wie “Geh’ nach Hause” und “Das ist kein Verdi!” Außer Luciano Pavarotti als Riccardo war gesanglich kein Lichtblick auf der Bühne.

Luciano Pavarotti. Foto: Elisa Leonelli

Und dann geschah das musikalische Wunder: nachdem Riccardo niedergestochen wurde, begann der Chor wie aus dem Nichts mit seiner Phrase “Cor sì grande e generoso”. Gavazzeni ließ Chor und Orchester von einem schwirrenden Piano hin zu einem Forte voller Klangfarben anschwellen, wo Pavarotti sein “Addio per sempre, o figli miei” nur einfügen musste. Plötzlich war die ganze Bühne eine Einheit. Der Abend endete mit dem Gefühl, etwas Einzigartiges gehört zu haben.

Cor sì grande  e generoso · Maria Callas · Giuseppe Di Stefano · Ettore Bastianini Un Ballo in Maschera Vol. 2 ℗ Copyright Control

Ein anderer Gänsehaut-Moment geschah in der Saison 1991 bei einer Aufführung von “La Fanciulla del West” von Puccini an dem gleichen Opernhaus unter der Leitung von Lorin Maazel. In der von mir besuchten Vorstellung sang die “zweite” Besetzung mit Giuseppe Giacomini als Dick Johnson, Jean-Philippe Lafont als Sheriff Jack Rance und Giovanna Casolla als Minnie.

Und eben diese letztere hat mir im zweiten Akt einen unvergessbaren Gänsehaut-Moment geschenkt. Nachdem Minnie das Pokerspiel um das Schicksal von Johnson gegen Rance gewonnen hat, brechen bei ihr emotional alle Dämme. Giovanna Casolla wusste das stimmlich vollkommen auszudrücken: ihre Stimme klang wie ein riesiger Schrei voller überschwänglicher Freude, Erlösung, ja Hysterie! Das war Verismus pur, bei voller stimmlicher Kontrolle! Und Lorin Maazel hat das Orchester dazu mit einem vollen üppigen Klang zur Spitzenleistung aufgepeitscht!

Einen viel intimeren Moment erlebte ich 2013 am Théâtre des Champs-Elysées in Paris in der Aufführung von “Dialogues des Carmélites” von Francis Poulenc. Regie führte dabei Olivier Py, die musikalische Leitung lag in den Händen von Jérémie Rhorer. Gesungen wurde auf extrem hohem Niveau von Patricia Petibon, Sandrine Piau, Sophie Koch, Véronique Gens…

Dann kam die Schlussszene der Oper, in der die Karmeliterinnen hingerichtet werden. Man hörte jedes Mal das Zischen und den Schlag der herabsausenden Guillotine. Mit jedem Schlag erlosch eine Stimme aus dem Choral der Karmeliterinnen bis schlussendlich totale Stille herrschte. Dieser Moment der Stille erschien mir unendlich, ja fast unerträglich. Dann klang die Oper mit einigen Takten Orchestermusik aus.

Die musikalische und die szenische Darstellung passten perfekt zueinander und berührten mich so sehr, so dass mir plötzlich Tränen über die Wangen liefen.

Deshalb warte ich wie süchtig auf meinen nächsten Besuch in der Oper, hoffend, dass ich einen neuen Gänsehaut-Moment erleben darf.

Jean-Nico Schambourg, 28. August 2022, für
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Schammis Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Sonntag.

                                                                                                         Jean-Nico SchambourgJahrgang 1959. Gehört einer weltlichen Minderheit an: Er ist waschechter Luxemburger! Und als solcher war es normal, Finanzwirtschaft zu studieren. Begann seine berufliche Karriere bei der Kriminalpolizei, ehe er zur Staatsbank und Staatssparkasse Luxemburg wechselte. Seit jeher interessiert ihn jede Art von Musik, aber Oper wurde seine große Liebe. Er bereist ganz Europa, um sich bekannte und unbekannte Opern und Operetten anzuhören. Nebenbei sammelt der leidenschaftliche Hobbykoch fleißig Schallplatten über klassischen Gesang (momentan ungefähr 25.000 Stück). Sang in führenden Chören in Luxemburg, verfolgt seit einigen Jahren aber ausschließlich eine Solokarriere als Bass. Sein Repertoire umfasst Lieder und Arien in zwölf Sprachen. Unter der Bezeichnung “Schammilux Productions” organisiert er selbst jährlich zwei bis drei Konzerte. Perfektionierte sein Singen in Meisterkursen mit Barbara Frittoli, Jennifer Larmore sowie Ramón Vargas, organisiert von “Sequenda Luxembourg”, einer Organisation zur Förderung junger Sängertalente, geleitet von seiner Gesangslehrerin Luisa Mauro. Neu auf klassik-begeistert.de: Schammis Klassikwelt, alle zwei Wochen.

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