Foto © Michael Pöhn
Wiener Staatsoper, 29. Januar 2018
Georges Bizet, Carmen
161. Aufführung in dieser Inszenierung
von Renate Wagner (der-neue-merker.eu)
Es musste nicht bewiesen werden, jeder weiß es: Eine Live-Stream-Übertragung, selbst wenn sie in diesem Fall (als Werbegeschenk einer Firma) gratis war, schadet dem Live-Andrang in einem Opernhaus nie. Die dritte „Carmen“ dieser Serie war nicht nur auf den Sitzplätzen, sondern auch auf den Stehplätzen ausverkauft. Vermutlich haben die teils so enorm divergierenden Meinungen und Urteile das Publikum neugierig gemacht. Und es war ja auch die vorläufig letzte Gelegenheit, Piotr Beczala bei diesem seinem ersten Versuch als Don José zu sehen – wer weiß, wann er ihn wieder singt.
Mit ihm wäre auch zu beginnen, weil es doch eine bemerkenswerte Leistung geworden ist. Die hoch dramatische Rolle als solche erfüllt, aber nebenbei auch bemerkenswert schön gesungen, keinem „Realismo“ geopfert. Von einem Sänger, der sich damit nicht überfordert, aber auch sein eigenes „lyrisches“ Konzept vorlegen kann. Man mag den José, den Beczala spielt, ein Weichei nennen. Aber letztlich kommt es nur darauf an, wie ein Sänger seine Persönlichkeit und die einer Rolle verschmilzt. Wir haben jede Menge großer José-Interpreten gesehen, und so gut wie alle – von Domingo über Lima und Carreras bis Alagna und Kaufmann, um nur einige wenige zu nennen – haben sich nach und nach, ab dem Ende des 2. Akts, in eine immer höhere Erregung und Emotion gesteigert, bis sie am Ende Bündel von Wut, Leidenschaft, Fassungslosigkeit, Haß und Verzweiflung waren, die zum Mörder geworden sind.
Beczala, der vieles kann und hat, allerdings nicht das, was man genuines Bühnentemperament nennt, spielt einen zurückhaltenden José, der fast widerstrebend in sein Schicksal gedrängt wird und am Ende alles andere will, als der geliebten Carmen etwas anzutun. Er ist kein Mörder aus Leidenschaft, kein Täter, sondern der Mann, dem die Frau ins Messer rennt, was er nur mit tragischem Erstaunen, aber ohne den heulenden Aufschrei zur Kenntnis nehmen kann, mit dem die Kollegen so oft beeindruckt haben.
Dazu, noch einmal gesagt, die perfekte Beherrschung der Partie, da sitzen alle schwierigen Übergänge mühelos in der Kehle, da strahlen die Spitzentöne, da ist kein Forcieren nötig, da ist einer zwar lieber lyrisch als dramatisch, beherrscht aber stimmlich alles. Vielleicht ist das auch auf die Erfahrung von zwei vorangegangenen Vorstellungen zurückzuführen. Jedenfalls reiht sich Beczala mit einer ganz persönlichen Interpretation in die – gar nicht so große – Riege der Don José-Sänger unserer gegenwärtigen Bühnen.
Große Freude bereitete es an diesem Abend, dass Carlos Álvarez in bester Verfassung war, die tödliche Auftrittsarie des Escamillo (wie viele Sänger schaffen das schon, sind Bassbaritone mit ausreichend Kraft, Tiefe und Höhe zugleich) gelang souverän, desgleichen das nächtliche Duell mit Don José, nur im dritten Akt war die Leistung dann ein wenig reduziert. Aber man weiß auch, dass der große Torero eine der großen undankbaren Rollen der Opernliteratur ist…
Olga Bezsmertna sang die Micaela, war eine sympathische, unsicher herumblickende junge Frau (es ist einfach schwierig, sich Rollen einfach so im Repertoirebetrieb zu erarbeiten) und störte ihr inniges, seelenvolles Singen selbst durch einige allzu schrille Spitzentöne. Aber hat man seit der Freni je eine wirklich bühnen-beherrschende Micaela erlebt (und die wurde von Karajan auf Händen getragen) – nicht einmal die Netrebko in jener sonderbaren „Carmen“ der Holender-Ära…
Die Staatsoper hat der hier enorm geförderten Margarita Gritskova die Carmen anvertraut. Gerade einmal 30, sind Jugend und Schönheit (geschminkt à la Elizabeth Taylor, also wirklich sehr schön) selbstverständlich ein Trumpf, tolle Figur, sexy Hüftschwung und auch, was sie sonst nicht immer hören lässt, eine eindrucksvolle Tiefe. Dennoch gibt es stimmliche Probleme, weil sie nicht durchgehend genügend Kraft für diese enorme Partie hat, immer wieder im Forte forcieren muss, auch von Zeit zu Zeit leicht atemlos klingt.
Darstellerisch ist sie noch ein Fliegengewicht, auch wenn man nicht die höchste Vergleichsstufe (Baltsa) ansetzt. Da mag nun der Fehler in der Disposition der Staatsoper liegen – hätte sie die Rolle ein paar Dutzend Male an kleineren Häusern gesungen, in verschiedenen Inszenierungen, mit verschiedenen Partnern, sie wüsste mit der Carmen mehr anzufangen. Aber das wird kommen, in ein paar Jahren sprechen wir uns wieder.
Jean-Christophe Spinosi und das Orchester haben nach zweimal „Carmen“ beim dritten Mal zusammen gefunden, der Auftakt der Oper brauste in Maserati-Schnelligkeit und -Kraft los, Missverständnisse mit der Bühne und mit Chor blieben vernachlässigbar, im Ganzen funktionierte der Abend. Karajan gibt’s im Alltag ja nicht.
Und noch etwas. Wir Wiener hängen an unseren alten Inszenierungen. Aber noch nie ist mir die Zeffirelli-„Carmen“ so regelrecht verschlissen vorgekommen, so miserabel beleuchtet (im dritten Akt sieht man rein gar nichts), oft so sinnlos und unstrukturiert vollgestopft mit Chor, dass man immer wieder die Solisten suchen muss… da täte eine neue Inszenierung gut. Sie muss ja nicht auf einem Autoschrottplatz oder in einer Telefonzelle spielen.
Foto: Michael Pöhn