Oper Halle: Blicke aus Afrika sezieren Grand Opéra

Giacomo Meyerbeer, L’Africaine / Fotouona Djami Yélé,  Oper Halle

Foto: (c) Falk Wenzel
Oper Halle, 5. Oktober  2018
Giacomo Meyerbeer, L’Africaine / Fotouona Djami Yélé
Das Kollektiv Angermayr
/Goerge/Somé /Traoré/VanSchoor

von Guido Müller

Um es gleich vorweg zu bemerken: mit der fünfaktigen Grand Opéra des bis zum Ersten Weltkrieg vielgespielten und neuerdings wieder häufiger auch an kleineren Bühnen aufgeführten Giacomo Meyerbeer „Vasco da Gama“ von 1865 (früher auch als „L’Africaine“ bekannt) hat diese stark beschnittene Fassung so wenig zu tun wie der zerstückelte Leichnam eines Kriegsopfers mit einem lebendigen Menschen. Krieg ist ja auch ein wichtiger Teil unseres Bildes von Afrika – wie auch der Eroberungs- und Kolonialkrieg der historische Hintergrund der Opernhandlung um eine erfundene Dreiecksliebesgeschichte ist: des Seefahrers Vasco da Gama zwischen der portugiesischen Admiralstochter Ines und der aus Indien stammenden, dem Brahmakult anhängenden Königin Selica, die in Afrika versklavt von Vasco da Gama nach Europa geführt wird.

Da mögen sich die sinnlich oder triumphal spielende Staatskapelle Halle unter der souveränen Leitung Michael Wendebergs oder der exzellente Opernchor unter der neuen Leitung von Markus Fischer und erst recht die zahlreichen Solisten, die hier gar nicht alle gewürdigt werden können, noch so sehr bemühen. Vorzüglich strahlt das neue Ensemblemitglied Tenor Matthias Koziorowski als Vasco da Gama, und herrlich schön singt Liudmila Lokaichuk die Kantilenen der Inès. KS Romelia Lichtenstein debütiert beachtlich in einer französischen Hauptrolle als Selica.Gerd Vogel stattet den Selica-Gefährten mit baritonalem Glanz und starker Bühnenpräsenz aus. Daneben verdienen Magnús Baldvinnsson als edle Basstöne verströmender Gast in seiner Doppelrolle und das Chormitlied Sebastian Byzdra als herrlich tonschön singender Matrose besonderes Lob.

Die afrikanischen Performer werden in den nächsten Abenden sicher noch eine prominentere Rolle spielen und dann zu würdigen sein ebenso wie die erst dann erscheinende Komposition des Südafrikaners VanSchoor.

Hier handelt es sich nämlich um den ersten Performance-Abend von insgesamt vier eines Projektes zur Entkolonialisierung des Geistes. Der erste Abend steht unter dem Titel „Fotouana Djami Yélé“, zu deutsch: Auseinandersetzung mit den Ahnen. An diesem Abend wurde er auch durch ein Hip Hop.Konzert von zwei in Bukina Faso bereits in den 1990er-Jahren berühmten politisch engagierten Künstlern abgeschlossen, die in der Inszenierung mitwirken. Die folgenden weiteren drei Abende der afrikanischen Überschreibung im Januar, März und Juni/Juli 2019 werden dann auch von zahlreichen Veranstaltungen zu Afrika wie einer afrikanischen Filmwoche begleitet.

Der Besucher stelle sich einfach vor, er sei noch nie mit Wagner in Berührung gekommen und treffe auf eine um mehr als die Hälfte zerstückelte Götterdämmerung, die von Isländern in Hinblick auf Wagners nordische Mythen seziert würde.

An diesem zweieinhalbstündigen Abend passiert sowohl sehr viel wie sehr wenig. Es ist simultane Perfomancekunst, keine Operninszenierung! Der Liebhaber großer Oper wird sich enttäuscht oder gar gelangweilt abwenden. Mancher gar in der Inszenierung das Niveau einer Schüleraufführung einer 7. Klasse entdecken.

Zugleich sieht sich der Zuschauer mit Texten, Bruchstücken von Bühnenbildern, prächtigen Kostümen, Masken, Filmen zugeschüttet: besonders prägnant durch die bereits vor Beginn gleichzeitig laufenden unterschiedlichen Großvideos, auf denen sowohl klischeeverhaftete Bilder Schwarzafrikas von Krieg, Gewalt, Zerstörung, Militär, Naturkatastrophen, etc. wie Videostatements schwarzafrikanischer Performer u.a. aus Bukina Faso durch den ganzen Abend laufen. Sie sezieren mit ihren Blicken oft in Großaufnahmen den Leichnam einer Grand Opéra oder spucken Wasser, um alles zu reinigen.

Bevor es überhaupt mit der Ouvertüre losgeht und bei laufenden Videos tritt ein kleinwüchsiger Schauspieler (herausragend präsent gespielt von Jona Bergander) als Hase mit Schluckauf auf, (Assoziationen an Joseph Beuys und Christoph Schlingensiefs Aktionen  sind durchaus gewollt), der in wechselnden Kostümen u.a. als Hofnarr den ganzen Abend begleitet. Er stellt uns vor, dass wir nun als eine Art Blockbuster des 19. Jahrhunderts die Große Französische Oper des Besitzbürgertums erleben werden. Im Laufe des Abends trägt er in Leuchtschrift verfasste Texte zur grausamen Völkermordgeschichte Afrikas seit der europäischen Kolonialsierung über die Bühne, teilweise als Rückseite der Bühnenbildsegmente von Palmen, Exotischen Elementen, Tieren. Immer wieder ist Jona Bergander aktiv und als Beobachter in die Handlung einbezogen.

Dann werden zwei Ahnenfiguren errichtet, denen im Laufe des Abends immer wieder geopfert wird. Die eine ist der Komponist Meyerbeer, die andere die Schwarzafrikanerin Sarah Baartmann aus Meyerbeers Generation, die als Vénus hottentote zu Lebzeiten wie ein Sexobjekt in europäischen Metropolen nach ihrem Tode mumifiziert ausgestellt wurde.

Am Ende sitzt der kleinwüchsige Europäer, das geschrumpfte europäische Gedächtnis, bei den Schwarzafrikanern. Der Behinderte als Außenseiter wie die Schwarzafrikaner in der europäischen Gesellschaft oder als europäischer Mittäter der Herrscherschicht?

So etwas kennen wir bereits aus Operninszenierungen des 2010 verstorbenen Christoph Schlingensief, der seine eigene Krebserkrankung sogar ab 2009 öffentlich inszenierte. Und Mitarbeiter seines Operndorfes in Bukina Faso und vor allem im Film tätige Performancekünstler sind unter der Gesamtleitung des Chefdramaturgen der Oper Halle Michael von zur Mühlen auch verantwortlich für diesen ersten Abend einer Überschreibung der Meyerbeer-Oper im Sinne einer zunehmenden Afrikanisierung, die bereits am Ende des ersten Abends deutlich wird.

Vor dem zerstückelten letzten Akt tritt das „akephalisch regulierte anarchistische Komitee zur Entkolonialisierung des Geistes“ auf. Deren schwarzafrikanische Mitglieder bezeichnen sich selbst als „Möbelpacker“ der Entkolonialisierung, die sie als schwere Arbeit bezeichnen. Schwere Arbeit auch für den Zuschauer, der sich darauf einlässt. Vorher haben sie sich schon in Videos als Vertreter der Elemente Feuer, Wasser, Erde und Bienenzucht (Wesen der Luft?) geäußert.  Akephalisch hat zwei Bedeutungen: in der Dichtung meint es ohne Anfang, ein nicht oder nur verstümmelt erhaltener Anfang, und soziologisch herrschaftsfrei. Beide Bedeutungen treffen auch auf ihre Arbeit mit diesem Werk zu.

Unfertig, herrschaftsfrei, aktionistisch, politisch anarchistisch, moralisierend, aufklärungskritisch (Vasco da Gama trägt immer einen hell leuchtenden Globus bei sich, wirkt zu Beginn als Träger der „Aufklärung“ gegen die katholische Exkommunikation, und jongliert später mit dem hellen Globus als Eroberer in seiner berühmten Tenor-Arie „Oh Paradies!“ wie Charlie Chaplin mit der Erdkugel in seinem Hitler-Film) so wirkt der erste Abend. Jede Menge Fragen und Assoziationen stellen sich ein.

Er macht neugierig auf die weiteren afrikanischen Überschreibungen. Ob damit ein Stück der Dekolonalisierung des Geistes sowohl auf Seiten der europäischen Besucher wie der afrikanischen Künstler geleistet werden kann, ist ebenso offen wie der erste Abend. Am klischeeverhafteten Bild Afrikas zu kratzen, gelingt dem Abend bereits vorzüglich.

Dr. Guido Müller, 7. Oktober 2018, für
klassik-begeistert.de

Michael Wendeberg, musikalische Leitung
Thomas Goerge, Lionel Poutiaire Somé Inszenierung, Textbuch und Video
Daniel Angermayr, Ausstattung
Matthias Koziorowski Vasco da Gama
Romelia Lichtenstein Sélica
Liudmila Lokaichuk Inès
Daniel Blumenschein Don Pédro
Robert Sellier Don Alvar
Ki-Hyun Park Don Diego
Gerd Vogel Nélusco
Magnús Baldvinnsson Großinquisitor / Bramane
Sebastian Byzdra Erster Matrose

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