Rezension des Videostreams: Montagsstück V: Giacomo Puccini, La bohème
Alle Stimmen haben zu jedem Zeitpunkt die Ausdruckskraft, Fülle und Stärke, die es braucht, um Puccinis „La bohème“ sängerischen Glanz zu verleihen. In einer Live-Aufführung eine sängerisch unglaubliche Herausforderung. Ich habe den heutigen Stream genossen!
Bayerische Staatsoper, München, Stream am 30. November 2020 einer Aufnahme vom 27. November 2020
Foto: Nationaltheater, München, © Felix Löchner
von Frank Heublein
Der Wein, den ich gerade geöffnet habe, heißt Grande Emozione. Er passt sehr gut zum dem, was ich gerade gehört und gesehen habe. Es schmeckt beides, vollmundig!
Denn diese Oper ist – einmal mehr – volle Kanone Liebe. Sie entbrennt, sie wird zelebriert, sie zerbricht in Eifersucht und Zorn. Sie wird sich zurückersungen. Wird unterdrückt, wird verteufelt. Um am Ende hinabzusinken in die Unendlichkeit des tödlichen Verlusts.
Das ist La Bohème!
Mein erster Eindruck bleibt mein einziger: alle Stimmen sind auf sehr hohem Niveau. Keine und keiner versteckt sich hier vor der einen oder dem anderem. Alle sind sängerisch wie spielerisch auf Augenhöhe.
Ich sehe den Stream heute als Vorteil. Das Spiel sieht man in filmischer Nahaufnahme viel besser als durch jedes Opernglas.
Die fröhliche Männerrunde zu Beginn des ersten Aktes. Wie gut aufgelegt sind die vier Sänger Jonas Kaufmann (Rodolfo), Andrei Zhilikhovsky (Marcello), Sean Michael Plumb (Schaunard) und Tareq Nazmi (Colline). Im Ensemble spielerisch, im Quartett stimmlich zeigt sich die Stärke ein erstes Mal. Gut aufgelegt sind alle vier!
Im ersten Tête à Tête zeigt Jonas Kaufmann was er spielerisch und gesanglich kann, was er draufhat. Umgehend kontert Rachel Willis-Sørensen als Mimi das sängerisch auf demselben hohen Niveau. Es mündet im Duett der entbrennenden Liebe Tu sol comandi, amore! – Nur die Liebe soll uns befehlen. Sehr schön gesungen und gespielt!
Der zweite Akt, das Café Momus. Hier hat Mirjam Mesak als Musette ihren großen Auftritt. Ja! Das ist in der Tat einer! Sängerisch wie schauspielerisch. Chapeau. Umrahmt von einer Ensembleleistung par excellence.
Im dritten Akt dann Mimi Rachel Willis-Sørensen, die Rodolfo sucht. Stimmlich eindringlich und so gut gespielt.
Dann wieder Rodolfo, der dem Freund Marcello seine wahren Gefühle offenbart:
Invan, invan nascondo
la mia vera tortura.
Amo Mimì sovra ogni cosa
al mondo. Io l’amo!
Umsonst tracht‘ ich zu verstecken
meine wahre Folter.
Ich liebe Mimi über alles
in der Welt. Ich liebe sie!
Doch kann er Mimi nicht das Umfeld bieten, dass ihrer Gesundheit zuträglich wäre. Voller Energie, Verzweiflung, wechselnden Gefühlen, dem Entsetzen, dass Mimi alles mit angehört hat, spielt und singt das Rodolfo Jonas Kaufmann.
Und weiter spielen und singen Mimi und Rodolfo auf diesem hohen Niveau im Duett – Addio, sogni d’amor! Leb wohl Du Liebstraum! Beide singen sich íhre Liebe wieder zusammen. Sie können nicht anders. Sie sind füreinander geschaffen!
Der vierte Akt. Rodolfo hat sich von Mimi und Marcello von Musetta getrennt. Und doch geistert den beiden die jeweilige Frau so im Kopf herum, dass aus ihrer Kunst nichts anderes wird als immer nur das Abbild der immer noch! Geliebten. Die beiden zergehen im Liebesschmerz.
Die beiden Freunde Schaunard und Colline kommen. Es ist, ich mag es meinen, fast wie zu Anfang ein ausgelassenes Männerquartett rund um einen Heringsfisch. Doch da tritt Musetta ein. Mimi kommt entkräftet nach.
Die Stimmen harmonieren in dieser Aufführung auch hier sehr schön. Zuerst Mimi und Musetta, Rodolfo powert sängerisch sein Entsetzen. Das nachfolgende Duett zwischen Rodolfo und Mimi intim, feinfühlig und anmutig gespielt und auf den Punkt gesungen.
Mimi sinkt dem Tod anheim, Rodolfo zweifelnd hofft, bricht ihm durch die Freunde schmerzliche Verzweiflung heraus.
Das ist „La bohème“! Sehr gut gesungen und gespielt von allen Beteiligten. Das Orchester leitet Asher Fish gekonnt und führt es als guten Begleiter der Stimmen. An zwei, drei Stellen überlagert es die Stimmen im Fortissimo eine Spur zu stark.
Was mich irritiert: Im Stream wird von einer „Neuproduktion“ gesprochen. Es ist eine Wiederaufnahme der Inszenierung von Otto Schenk aus dem Jahre 1969. Nicht gerade die frischeste. Ist heute mir egal, denn Spiel und Gesang, darauf fokussiert der Stream, sind toll! Das Raumgebende der Inszenierung ist am Bildschirm für mich zweitrangig. Ich habe die Inszenierung im Opernhaus live gesehen, da habe ich das anders empfunden, die Inszenierung als ein wenig muffig wahrgenommen. Entschuldigung Herr Otto Schenk, ich verehre Sie trotzdem!
Im Stream sind die Umbaupausen geschnitten. Ob Corona-bedingt zwischen den Akten längere Pausen bestanden? Ich habe keine Ahnung. Es wäre ein Vorteil der Situation, wenn es so wäre! Alle Stimmen haben zu jedem Zeitpunkt die Ausdruckskraft, Fülle und Stärke, die es braucht, um Puccinis „La bohème“ sängerischen Glanz zu verleihen. In einer Live-Aufführung eine sängerisch unglaubliche Herausforderung. Ich habe den heutigen Stream genossen!
Frank Heublein, 30. November 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die Produktion wurde am 27. November – ohne Publikum – aufgezeichnet und am 30. November gestreamt. Das erklärt, warum die Pausen wegfielen.
Waltraud Riegler