English National Opera, 29. Februar 2020, Wiederaufnahme, Co-Produktion mit der Metropolitan Opera New York
Giacomo Puccini, Madam Butterfly
Foto: ENO.org (c)
von Charles E. Ritterband
Der Zufall wollte es, dass ich unmittelbar vor der Vorstellung der English National Opera ENO im London Coliseum der Eröffnung einer großartigen Ausstellung zum japanischen Kimono im Victoria and Albert Museum beiwohnte. In keiner Produktion der Madam Butterfly, die ich je an diversen Opernhäusern von Buenos Aires bis Wien erleben durfte, kommen farbenprächtige Kimonos, kommt die so ganz besondere japanische Ästhetik derart großartig zum Ausdruck wie in dieser gefeierten Co-Produktion der ENO mit der New Yorker MET aus dem Jahre 2006, eine Regiearbeit des zwei Jahre später verstorbenen britischen Film- und Theaterregisseurs Anthony Minghella: ein Gesamtkunstwerk!
Die Bühne des London Coliseum ermöglicht eine kaum zu übertreffende effektvolle Präsentation dieser Oper – und das Orchester der ENO unter der Stabführung des englischen Dirigenten Martin Brabbins hüllt das Publikum im ausverkauften Saal dieses größten Theaters des Londoner Westends betörend in die sinnlichen Klangwolken Puccinis. Dieses bewährte Orchester gibt das ganze Spektrum der Musik des italienischen Komponisten zu seiner „Butterfly“ geradezu ideal wieder: die subtilen Zitate japanischer Volkslieder (namentlich des berühmten Sakura- oder Kirschblüten-Lieds, zweifellos das japanische Nationallied) und dann als harter Kontrast das „Star-Sprangled Banner“ als Symbol des Marineleutnants Pinkerton und seines unreflektierten Amerika-Chauvinismus.
Ein zweiter Zufall wollte es, dass ich nur wenige Tage vor dieser Aufführung im Zeitgeist der (vorletzten) Jahrhunderwende eine ebenfalls hervorragende und völlig andere Inszenierung im Teatro Comunale Bologna sah: Dort spielte Butterfly in einem heutigen Vergnügungsviertel einer japanischen Großstadt, vermutlich in Tokio – mit Prostituierten und allerlei zwielichtigen Gestalten. Aus der ENO-Produktion war alles Hässliche verbannt, hier herrschte allein der Traum vom Kult der Schönheit, der weiblichen Sanftheit; es dominierten die leuchtenden Farben der Kimonos und der Hintergrundbeleuchtung.
Manchmal war es in beiden Inszenierungen des Guten zu viel: In Bologna ereignete sich so viel auf der Bühne, dass von der Intimität zwischen Butterfly und Pinkerton am Ende des ersten Aktes abgelenkt wurde. Und in der Londoner Inszenierung wurde die Grenze zum Kitsch nicht nur touchiert, sondern bisweilen überschritten: Wenn am Ende des ersten Aktes die Liebenden durch einen auf die Bühne herabgesenkten Vorhang aus Kirschblüten zu ihrer ersten Liebensnacht schreiten oder wenn Cio-cio-San im zweiten Akt die Blumen, die ihr Haus für die Ankunft des so sehnsüchtig erwarteten Pinkerton schmücken sollen, vom Rücken schwarzgekleideter Assistentinnen pflückt. Aber, soll sein – denn Puccinis Musik, seien wir ehrlich, schwappt gerade dann, im berühmten gesummten Chor der durchwachten Nacht, die Schönheit auch bei Puccini in den Kitsch über. Aber das ist Geschmackssache, zugegeben.
Diese Inszenierung bot nicht nur fantastische Elemente der japanischen Ästhetik und Traditionen – wie beispielsweise die visuelle Erinnerung an die berühmteste Geisha ihrer Zeit, der bildschönen Sadayakko („Yakko“, 1871-1946). Was diese Inszenierung wahrhaft zum Gesamtkunstwerk machte, war die äußerst kunstvolle Integration des japanischen Puppentheaters (Bunraku). Schwarzgekleidete und verhüllte Puppenmeister führten zuerst die Puppen von zwei der Hausangestellten und dann, im dritten Akt, die Puppe des kleinen Sohns der Cio-cio-San. Diese hervorragend gemachte Puppe – ein Kunstwerk für sich – wurden von den Protagonisten (vor allem von der „Mutter“ Cio-cio-San) derart meisterhaft als lebendes Wesen behandelt, dass sie für das Publikum tatsächlich zu leben begann.
Stimmlich waren zwei der Sänger auf der Höhe des erstklassigen ENO-Orchesters: Vor allem die Butterfly der walisischen Sopranistin Natalya Romaniw mit ihrer herrlich cremigen, variablen Stimme – unbestreitbarer Star des Abends. In dieser Oper hat die Titelfigur praktisch ununterbrochen Bühnenpräsenz _ eine ungeheuer anspruchsvolle, alle Energien und Konzentration beanspruchende Rolle, die aber auch sehr viel Glanz verspricht. Und diesen erwarb sich diese hervorragende walisische Sängerin. In ihrem Schatten stand – wie so oft in dieser Oper – ihr Partner Pinkerton (der amerikanische Tenor Dimitri Pittas). Seine Stimme war zwar von beeindruckend kraftvoller Stärke und durchaus passend in den lyrischen Passagen am Ende des ersten Aktes, ließ aber dennoch tenoralen Schmelz vermissen. Herausragend hingegen der Sharpless des englischen Baritons Roderick Williams mit einer sehr warmen, tiefen Stimme, die perfekt zur Rolle des moralischen Gegenparts zu Pinkerton passte.
Alles in allem – eine extrem beeindruckende, geradezu epochale Inszenierung der Butterfly, die bei allen kleineren Mängeln (dem Abgleiten ins allzu Süßliche) Maßstäbe für viele Jahre gesetzt hat.
Dr. Charles E. Ritterband, 3. März 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent: Martin Brabbins
Regie: Anthony Minghella
Bühne: Michael Levine
Puppen: Blind Summit Theatre
Cio-cio-San (Madam Butterfly): Natalya Romaniw
Suzuki: Stephanie Windsor-Lewis
Pinkerton: Dimitri Pittas
Sharpless (Konsul): Roderick Williams
Goro: Alasdair Elliott
Yamadori: Njabulo Madlala
Kate Pinkerton: Katie Stevenson
Chor und Orchester der ENO