Plácido Domingo dirigiert „Turandot“ in Verona nicht immer präzise

Giacomo Puccini, Turandot  Arena di Verona, 26. August 2022

Foto: Turandot, Arena di Verona 2022

Plácido Domingo, dessen Stimme am Vorabend bei der großen Verdi-Gala versagt hatte, sodass er im dritten Teil – Macbeth – nicht mehr auftreten konnte und durch den russischen Bariton Roman Burdenko ersetzt werden musste, trat am Freitagabend augenscheinlich mit frischer Energie ans Dirigentenpult. Für die rund 16.000 Zuschauer in der Arena di Verona, diesem berühmtesten, größten und großartigsten aller Freilufttheater der Welt, war es ein besonderes und wohl für den Rest des Lebens unvergessliches Ereignis, die lebende Legende Domingo als Sänger und gleich am Abend danach als Dirigent zu erleben.


Giacomo Puccini, Turandot, Arena di Verona,
26. August 2022

von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

Plácido Domingo, vor Jonas Kaufmann und neben Luciano Pavarotti der berühmteste Tenor der Welt, hat seinen sängerischen Zenit längst überschritten (obwohl er mit seiner überragenden Technik und seiner nach wie vor wohlklingenden Stimme durchaus immer noch ein Erlebnis auf der Opernbühne ist). Und als ausgebildeter, professioneller Dirigent ist Domingo dank seiner immensen, jahrzehntelangen Erfahrung im Opernrepertoire und seiner fantastischen Musikalität zwar durchaus ein ausgezeichneter Dirigent – doch mit den wirklich überragenden Kollegen am Dirigentenpult kann er sich nicht messen.

Der Verdacht liegt nahe, dass Domingo als Dirigent vor allem seinen weltberühmten Namen als Tenor ins Spiel bringt – und deshalb das Publikum in Scharen anzieht und sich Engagements als Dirigent in den großen Häusern weltweit sicherte. Domingo dirigierte in mehr als 500 Opernaufführungen und Konzerten an der Metropolitan Opera, der Royal Opera Covent Garden, der Semperoper Dresden und allein an der Wiener Staatsoper mehr als 40 Mal.

Turandot, Arena di Verona 2022

So war das Dirigat Domingos dieser phänomenalen Puccini-Oper an diesem Sommerabend in der Arena di Verona zumindest im ersten Akt eher unspektakulär. Puccinis überwältigende Musik kam da eher lau daher, die Musiker wirkten nicht sehr inspiriert (in krassem Gegensatz zu der kürzlich an den Bregenzer Festspielen gesehenen und gehörten Butterfly-Dernière mit den Wiener Symphonikern und Yi-Chen Lin am Dirigentenpult) und Puccinis gewaltige Tonfolgen verhallten in der immensen Arena fast etwas kleinlaut. Die Einsätze der Musiker waren nicht immer präzise, die Koordination mit Sängerinnen  und Sängern nicht ganz perfekt – und bemerkenswerterweise benötigte der weltberühmte südkoreanische Tenor Yonghoon Lee in der Hauptrolle des Calaf  diesen ersten Akt gewissermaßen als Aufwärm-Phase, bis er sich dann mit dem legendären „Nessun dorma“ mit kraftvoller und doch geschmeidig warmer Stimme erwartungsgemäß zur Höchstform aufschwang. Dirigent Domingo gewährte seinem jungen, ebenfalls zu Weltruhm aufgestiegenen Kollegen angesichts des jubelnden Publikums eine von den Zuschauern dankbar quittierte Zugabe dieser populärsten aller Tenor-Arien.

Turandot, Arena di Verona 2022

Die seit Jahrzehnten an der Met enthusiastisch gefeierte und in New York zur Standard-Ausstattung dieses berühmtesten aller Opernhäuser gehörende Zeffirelli-Inszenierung aus dem Jahr 2010 hält auch auf dieser wesentlich größeren Bühne der Arena das Publikum in Atem. Immer wieder staunt man über die goldprunkende Üppigkeit dieser Vision von Macht und Prunk des chinesischen Kaiserreichs. Erst der Blick durch den Operngucker offenbart die ungeheure Reichhaltigkeit und Detailtreue dieses Bühnenbilds mit seinen Pagoden, zierlichen Türmchen und aufwendig gestalteten Reliefs. Der erste Akt spielt sich noch vor einem riesigen, mehrteiligen Vorhang mit Darstellungen von chinesischen Drachen ab; effektvoll wird er beiseite gezogen beim Auftritt des Kaisers und seiner grausamen Tochter, als Calaf mit den drei Rätselfragen konfrontiert wird: Erst jetzt offenbart sich zum spontanen Szenenapplaus des  Publikums die goldene Pracht des chinesischen Kaiserhofs.

Turandot, Arena di Verona 2022

Wenn Kaisertochter Turandot ihre grausame Praxis der Enthauptung von gescheiterten Rätselkandidaten (und damit ihren offenen Männerhass) mit der Erzählung von ihrer Ur-Ahnin Lo-u-Ling begründet, die von einem „ausländischen Prinz“ vergewaltigt und ermordet wurde – „In questa reggia“ – denkt man unwillkürlich an die Missbrauchsvorwürfe gegen den Mann, der an diesem Abend am Dirigentpult stand. „Honi soit qui mal y pense“.

Allerdings – diese Turandot der Ukrainerin Oksana Dyka macht nicht vollständig glücklich. Vielleicht hätte man doch lieber Anna Netrebko gehört, welche die Kaisertochter in den ersten drei Turandot-Vorstellungen dieser Saison an der Arena verkörperte. Dyka war durchaus imposant, die eher zierliche Sängerin wurde mit gewaltigen, gold- und silberglänzenden Kostümen aufgetakelt – nun, schließlich erklärt sie ja selbst ihrem künftigen Doch-noch-Gatten Calaf, dass sie keine sterbliche Frau, sondern eigentlich eine Göttin sei. Ihre Stimme allerdings wirkte in diesem riesigen Rund der Arena, wo (im Gegensatz zu Bregenz) keine Mikrofon-Lautsprecheranlage die Stimme gegen das nunmehr imposant anbrandende Orchester unterstützt, forciert und metallisch. Was eigentlich gar nicht so schlecht zum Charakter der eiskalten Prinzessin (Calaf war entweder blind verliebt in diese problematische Frau oder hat eine masochistische Tendenz) passte. Aber Wohlklang war das nicht, sorry.

Turandot, Arena di Verona 2022

Dieser hingegen fand sich bei der wie immer berührenden Liù der spanischen Sopranistin Ruth Iniesta mit ihrer ebenso klaren wie tragenden Stimme, einem wunderbaren Timbre und einer Stärke, die mühelos die Arena füllte. Der dankbare Applaus des Publikums war ihr gewiss. Bemerkenswert auch die drei (brutalen) Clowns Ping (Biagio Pizzuti), Pong (Matteo Mezzaro) und Pang (Riccardo Rados), die in ihren wunderbar grellfarbenen Kostümen nicht nur grotesk-makabren Humor wie in anderen Inszenierungen, sondern auch starke, schöne Stimmen boten. Überragend der Kaiser Altoum des amerikanischen Chris Merritt mit seiner virilen und doch warmen Stimme – entsetzt, bedauernd und doch machtlos gegenüber den Kaprizen seiner männermordenden Tochter Turandot.

Dr. Charles E. Ritterband, 27. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dirigent: Plácido Domingo
Regie und Bühnenbild: Franco Zeffirelli
Chormeister: Ulisse Trabacchin
Choreographie: Gaetano Petrosino
Kostüme: Emi Wada

Turandot: Oksana Dyka
Calaf: Yonghoon Lee
Liù: Ruth Iniesta
Timur: Riccardo Fassi
Kaiser Altoum: Chris Merritt
Ping: Biagio Pizzuti
Pong: Matteo Mezzaro
Pang: Riccardo Rados

Orchester und Chor der Fondazione Arena di Verona

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