Foto © Daniel Dittus
Elbphilharmonie Hamburg, Kleiner Saal, 27. November 2017
Gidon Kremer Violine
Luigi Nono La lontananza nostalgica utopica futura
Mieczysław Weinberg 24 Präludien op. 100 für Violoncello solo / Bearbeitung für Violine solo von Gidon Kremer
Valentin Silvestrov Serenade [Zugabe]
Antanas Sutkus Fotografie
von Sebastian Koik
Zahlreiche Notenständer sind wild über die Bühne und teilweise in den Zuschauerraum hinein verteilt. In Luigi Nonos La lontananza nostalgica utopica futura musiziert aber nur einer. Gidon Kremer wandert mit seiner Nicola Amati aus dem Jahr 1641 durch den Raum und spielt mal hier und mal dort – und letztendlich mit sich selbst. Denn aus diversen Lautsprechern ertönen Fetzen Violinmusik, die Kremer in acht Spuren selbst vor Jahrzehnten für den venezianischen Komponisten Luigi Nono eingespielt hat.
Diese Musik muss man mögen. Und es werden eher wenige Menschen sein, denen das gefällt. Wenn man diese Musik nicht geistig theoretisch analysiert, sich mit Hintergründen und Absichten, politischen und philosophischen Gedanken beschäftigt, dann kommt da nicht viel rüber. Es ist keine sinnliche Musik. Das Violinspiel aus den Lautsprechern klingt fern und gespenstisch, neben einem konstanten atmosphärischen Grundton ist Entwicklung nicht wirklich zu erkennen in diesem Stück, Redundanz dagegen schon. Da kann trotz eines Weltklasse-Solisten schon mal Langeweile aufkommen! Das ist schon sehr speziell und verdiente im Programmheft den Warnhinweis „Vorsicht: Neue Musik!“
Glücklicherweise sind scheinbar kaum Neulinge im Saal, die sich damit für immer aus Konzertsälen verschrecken ließen. Vorurteile gegenüber anspruchsvollerer Musik lassen sich mit so einer Stückwahl leicht bestätigen: elitär, prätentiös, unzugänglich, sperrig, trocken, spaßbefreit, freudlos, intellektuell abgehoben, … und vielleicht sogar ein wenig unmenschlich.
Nicht wenige Musikfreunde sind der Meinung, dass solche Stücke fast nur noch geschichtlich Bedeutung haben. Es mussten neue Wege beschritten werden, es musste Neues ausprobiert werden. Doch heute ist das Neue von vor ein paar Jahrzehnten oft alt und verstaubt. Interessanterweise haben sich auch viele Pioniere dieser Art von Musik in ihren Spätwerken wieder davon abgewendet und sie teilweise selbst als Irrweg bezeichnet.
Als zweites Stück des Abends 24 Präludien op. 100 für Violoncello solo von Mieczysław Weinberg in einer Bearbeitung für Solo-Violine von Gidon Kremer selbst. Der große lettische Geiger kann hier besser zeigen, was er drauf hat. Er spielt virtuos mit großer Präzision, Schärfe und Dramatik und ist sichtlich mit sehr, sehr großer Leidenschaft dabei. Er wirft sich in die Musik und versteht es wunderbar Spannung zu erzeugen. Hier ist mehr Feuer drin als im sehr, sehr kühlen Nono zuvor. Dennoch bleibt auch diese Musik wenig sinnlich und wird außer den Fans dieser Richtung wenige Menschen wirklich berühren und mitnehmen.
Zum Weinberg-Stück werden auf einer großen Leinwand Schwarz-Weiss-Fotografien des litauischen Fotografen Antanas Sutkus gezeigt. Sie sind schön und wirklich sehenswert, lassen Nostalgie- und Ostalgie-Gefühle aufkommen, und zwar im allerbesten Sinne. Der Mann ist ein wahrer Könner darin, mit Licht zu malen, und er zeigt interessante und faszinierend fremde und schöne Gesichter, Accessoires, Kleidung und Lebenswelten. Es ist beseelte Fotografie, die Blicke in eine Welt zeigt, die es so nicht mehr gibt und in dieser Ästhetik bei uns so nie gegeben hat.
Wollte man mit den schönen Fotos die Zuschauer besänftigen, die mit der Musik nichts anfangen können? Denn eigentlich ist Musik Musik und Fotografien sind Fotografien. Man sollte solche Verschmelzungs-Versuche im Konzertsaal sein lassen. Dafür sind andere Kunstformen wie der Film zuständig. Die Bilder lenken von der Musik ab und tragen nicht wirklich etwas zu ihr bei.
Wenn süße Kinderszenen auf der Leinwand erscheinen, was häufiger geschieht, dann erfreut sich das Publikum hörbar, immer wieder lacht es. Gibt es als nächstes Katzenvideo-Begleitung zu noch sperrigerer Neuer Musik?
Es muss und darf nicht immer nur Bach, Beethoven und Mozart sein. Aber vielleicht sollte man die schrägsten Liebhaber-Stücke doch lieber auf eindeutig gekennzeichneten Liebhaber-Veranstaltungen spielen … und dem breiteren Publikum dafür öfters mal die viel zu selten gespielte und wahrhaft schöne und zugänglichere Musik von Pēteris Vasks und Steve Reich präsentieren. Die ist frisch, berührt und hat den Menschen heute etwas zu sagen.
Musikalisches Highlight des Abends ist eine Serenade von Valentin Silvestrov als Zugabe. Die Musik ist herrlich zärtlich, fein und elegant, berührt, öffnet weite Räume. Es ist Musik mit Seele und Tiefe, reich und schön. Große Spannung in der Musik und der Interpretation – und Kremer brilliert. Valentin Silvestrov ist eine zauberhafte Entdeckung an diesem Abend. Von diesem Künstler möchte man in Zukunft gerne mehr hören!
Sebastian Koik, 28. November 2017, für
klassik-begeistert.de