Die Londoner Royal Opera begeistert mit einem brillanten „Barbier“ – ein Feuerwerk an Einfällen, Humor und Musikalität

Gioachino Rossini, Der Barbier von Sevilla  Royal Opera Covent Garden, 2. Februar 2023 PREMIERE

Die Erwartungen an die Royal Opera Covent Garden waren, wie immer, hoch – und sie wurden nicht enttäuscht: Diese Neuproduktion von Rossinis Barbier ist ein Feuerwerk aus Humor, Farben, Musikalität und unvergleichlicher Originalität. So viel frischen  Wind in eine derart oft gespielte Oper zu bringen ist eine künstlerische Leistung auf höchstem Niveau. Und, selbstverständlich für dieses Haus, war diese Aufführung musikalisch Weltklasse – mindestens auf dem Niveau von Met und Wiener Staatsoper.


Gioachino Rossini, Der Barbier von Sevilla

Libretto: Cesare Sterbini

Orchester des Royal Opera House
Wiederaufnahme der Produktion aus dem Jahr 2005
Rafael Payare, Dirigent

Royal Opera Covent Garden, 2. Februar 2023


von Dr. Charles E. Ritterband (Text und Fotos)

An zwei aufeinanderfolgenden Abenden in den beiden großen Opernhäusern der englischen Metropole zwei brillante Opernpremieren erleben zu dürfen ist zwar keineswegs völlig ungewöhnlich, aber doch immerhin ein großes Glück. Dass beide Opern ausgerechnet auf dem Schauplatz Sevilla angesiedelt sind – eine Tragödie mit tödlichem Ausgang die eine, eine heitere Farce mit Happy End die andere – ist nun allerdings schon ein bemerkenswerter Zufall.

Gestern noch die fulminante „Carmen“ der National Opera im London Coliseum – traditionsgemäß in englischer Übersetzung – und schon heute das musikalische und szenische Feuerwerk des „Barbier von Sevilla“, selbstverständlich in der italienischen Originalsprache, an der Royal Opera House Covent Garden. Populär die „Carmen“, was man bereits am volkstümlicheren Publikum merkt, der „Barbier“ hingegen an der eleganten Royal Opera, die (schon aufgrund der Preisgestaltung) eher ein sozial gehobenes Publikum anzieht. Beide Häuser gewährleisten musikalische Erlebnisse und Inszenierungen auf kompromisslosem Weltklasse-Niveau. Man fühlt sich privilegiert, in London zu leben.

Schon der Dirigent dieser Aufführung, der Venezuelaner Rafael Payare, der damit sein Debut an der Royal Opera feierte, leitete das wie immer erstklassige Orchester des Hauses mit Verve, Temperament und zugleich Präzision. Es handelte sich um die Wiederaufnahme dieser brillanten Produktion des Regie-Gespanns Moshe Leiser und Patrice Caurier aus dem Jahr 2005. Von einem verstaubten Ladenhüter war allerdings an diesem Premierenabend nicht das geringste zu verspüren – dieser „Barbiere“ kam in vitaler Frische über die Bühne, mit seinem sprühenden Humor und seiner facettenreichen Originalität, als wäre er erst gestern inszeniert worden!

Symbolträchtiges Bühnenbild

Das Bühnenbild (Christian Fenouillat) ist mit seinen vielfältigen Apparaturen und seiner verblüffend ideenreichen technischen Ausstattung allein schon eine ausführliche Beschreibung wert: Da sind anfänglich nur geschlossene Wände, aus denen sich der vergitterte Balkon herausschiebt, auf dem die eingesperrte Rosina der wunderbaren Serenade des Grafen Almaviva alias „Lindoro“ lauscht. Und das Innere des Hauses scheint im zweiten Akt vorerst nur aus Wänden ohne Türen und ohne Fenster zu bestehen – sehr plastische Darstellung des „Gefängnisses“ in das Rosina durch ihren Vormund und Möchtegern-Ehemann eingesperrt wird. Doch dann, zum Amüsement des Publikums, öffnet sich plötzlich ganz oben ein Fenster, in dem der Barbier erscheint, oder eine Tür, durch die der als betrunkener Soldat verkleidete Liebhaber platzt.

Anleihen bei Gilbert and Sullivan – und in der Commedia dell’arte

Dass die Regie sich von den absurd-drolligen und so typisch englischen Operetten des Teams Gilbert and Sullivan inspirieren ließ, ist nicht von der Hand zu weisen – und sorgte für englisches Lokalkolorit auf dem Schauplatz Sevilla: Die Musiker im ersten Akt in umwerfender Komik, hinter der Bühne aufgereiht, mit grotesken falschen Nasen – und dann die von Dr. Bartolo herbeigerufenen Soldaten, wieder mit den komischen Nasen, doch diesmal mit den weißen Tropenhelmen der Polizisten in südlichen Ländern. Und diese leuchtenden, fröhlichen Farben – in der Gestaltung der Wände und den Kostümen, vor allem jenem der Rosina!

Diese Oper kann – in ihrer klassischen Erzählung vom törichten Alten, welcher der Illusion verfallen ist, widerstandslos eine junge Schönheit zum Altar führen zu können – ihre Ursprünge in der Commedia dell’arte nicht verleugnen. Deshalb zelebriert diese Inszenierung die volkstümlichen Slapstick-Gags jenes ursprünglichsten aller Volkstheater-Aufführungen, die auf den Dorfplätzen der italienischen Kleinstädte ihren Anfang genommen hatte und viel mehr auf grobe Effekte und ungehobelte Witze als auf Subtilität und Intellektualität erpicht war. Doch nicht nur Gilbert and Sullivan und die Commedia dell’arte standen Pate bei dieser Inszenierung – die grotesken Masken der Musiker und Polizisten lassen an das einsame Genie des italienischen Films denken: Fellini…

Zu der temperamentvoll revitalisierten Aufführung aus dem Jahr 2005 passte, dass einer der ganz großen Stars – ein Veteran der Londoner Opernbühne inzwischen  – in der Rolle des skurrlien, frömmelnden und korrupten Don Basilio zu sehen und zu hören war: Der großartige walisische Bassbariton Bryn Terfel.

© Adam Barker / DG

Seine verschlagene Arie „La calunnia è un venticello“ (die Verleumdung ist ein Lüftchen) bringt Terfel mit so viel Subtilität und Verschlagenheit wie kein zweiter Sänger. Belcanto vom Feinsten bot der amerikanische Tenor Lawrence Brownlee, der sich namentlich an der Met, der Wiener Staatsoper und der Scala di Milano einen großen Namen gemacht hat. Die sublime Feinheit seines Gesanges und die stimmliche Trittsicherheit, mit der er höchste Höhen erklimmt, gehören zum Besten, was ich je in dieser Rolle des Liebhabers Almaviva/Lindoro hören durfte. So überzeugend Lawrence Brownlee vor allem stimmlich als schmachtender Liebhaber über die Bühne kam, so flach blieb allerdings seine Darstellung in den beiden Szenen, die umwerfenden Humor erfordern würden: als betrunkener Soldat und dann als Alonso, also als „falscher“ Don Basilio. Da fehlt ihm unverkennbar die nötige Komik.

Virtuos und doch präzis beherrscht der Figaro des polnischen Baritons Andrzej Filonczyk. Die Rosina der russischen Sopranistin Aigul Akhmetshina glänzt in wunderbar farbigen, in allen Höhen mühelos erklommenen Koloraturen und besticht mit samtenen, weinroten Tiefen. Eher blass und temperamentlos, auch stimmlich und darstellerisch – eigentlich gerade so, wie es die Rolle des glücklosen Möchtegern-Gatten verlangt – bleibt der italienische Bariton Fabio Capitanucci als Dottor Bartolo. Genau wie der großartige Belcanto-Tenor Lawrence Brownlee lässt auch er die nötige Komik vermissen.

Alles in allem jedoch ein sprühendes Opernerlebnis, ein Feuerwerk aus Farben und köstlicher Musik – man freut sich bereits, in Kürze diese erstklassige Inszenierung als Streaming auf dem Bildschirm oder der Kinoleinwand erleben zu dürfen.

Dr. Charles E. Ritterband, 2. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dieser „Barber of Seville“ ist als live streaming am 15. Februar und am 19. Februar in Kinos weltweit und auf Ihrem Bildschirm daheim zu sehen (roh.org.uk): Royal Opera House Streaming Barber of Seville

Regie: Moshe Leiser und Patrice Caurier
Bühne: Christian Fenouillat
Kostüme: Agostino Cavalca

Chöre: William Spaulding
Dirigent: Rafael Payare
Figaro: Andrzej Filonczyk
Rosina: Aigul Akhmetshina
Graf Almaviva/Lindoro: Lawrence Brownlee
Dottor Bartolo: Fabio Capitanucci
Don Basilio: Bryn Terfel
Berta: Ailish Tynan

Gioachino Rossini, Il barbiere di Siviglia Salzburger Pfingstfestspiele, 5. Juni 2022

Pathys Stehplatz(10): Gioachino Rossini, Il barbiere di Siviglia, Wiener Staatsoper, 04. Oktober 2021

Gioacchino Rossini, Il barbiere di Siviglia Luzerner Theater, 27. September 2020

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