Foto: Burg Olavinlinna © Savonlinna Opera Festival
Gioachino Rossini, Il Barbiere di Siviglia (Sevillan Parturi), 4. Juli 2019
von Charles E. Ritterband
Dieser “Barbiere“ in der mittelalterlichen Burg Olavinlinna in Savonlinna war eine turbulente, freche und musikalische Revue, die überquoll von schrägen, originellen Regieeinfällen – und gesanglich zudem hervorragend. Wo liegt Savonlinna? Inmitten der ostfinnischen Seenplatte, in einem unüberschaubaren Puzzle unzähliger Seen, mehr als ein Drittel des Stadtgebietes (35 000 Einwohner) ist von Wasser bedeckt – eine viereinhalbstündige (allerdings sehr komfortable) Bahnreise von Helsinki entfernt. Russland ist wenige Kilometer entfernt und St.Petersburg deutlich näher als die finnische Hauptstadt.
Und hier, „in the middle of nowhere“, wie man hier stolz lächelnd feststellt, werden jeden Sommer international renommierte Opernfestspiele abgehalten, die je nach Rating zu den fünf oder gar zwei weltbesten gezählt werden. Für wahre Opernfreunde und Kenner ein Geheimtipp. Das Repertoire mit sechs Opern und insgesamt rund 25 Vorstellungen pro Saison ist konventionell und damit auch für ein breites Publikum attraktiv – aber die Sänger durchwegs hervorragend und die Inszenierungen mehr eigenwillig als aufwendig.
Wenige Besucher allerdings finden den Weg aus dem Ausland hierher; die überwiegende Mehrzahl (rund 90 Prozent) der 60 000 Tickets wird von Finnen erworben. Abgehalten wird dieses einzigartige Festival in einer gewaltigen mittelalterlichen Burg – erreichbar über eine schwenkbare Brücke. Schiffe haben Vorrang, die Besucher und das gesamte Orchester haben am Ufer zu warten, bis die Wasserfahrzeuge die Insel passiert haben, auf der die mächtige Festung thront. Dies kann zu Verzögerungen beim Beginn der Oper führen – doch das nimmt man hier gerne in Kauf: Schließlich ist dieser Schauplatz spektakulär und weltweit einzigartig. Die Festung liegt an einem strategisch überaus wichtigen Punkt – sie beherrscht die Wasserstraße aus Russland zur baltischen See, sie war die Grenzfestung Schwedens (das einst Finnland beherrschte) gegenüber Russland und fiel zeitweise in russische Hände.
Einmalig wie der Schauplatz war auch diese Inszenierung (Regie: Kari Heiskanen) des „Barbiere“ – eine Oper, die in ihrer spritzigen „Italianità“ so gar nicht in die finnische Landschaft passen will. Der finnische Humor funktioniert ziemlich anders als jener der Belcanto-Opern: Die Finnen, entnehme ich einem Buch über die skandinavischen Völker (Michael Booth, The Almost Nearly Perfect People) hätten einen „Sahara-trockenen Sinn für Humor, befrachtet mit einer stark unterspielten Ironie“.
Nun, dieser „Barbiere“ des bekannten finnischen Regisseurs Heiskanen quoll förmlich über vor Originalität und Ausgelassenheit: Es begann damit, dass die Musiker, die das Ständchen des Grafen vor dem Fenster der Rosina zu intonieren hatten, als komplettes Orchester auf der Bühne platziert wurden – wo sie, anfangs gesittet die Ouvertüre intonierend (in Wirklichkeit kam der Sound aus dem Orchestergraben), immer mehr außer Rand und Band gerieten und allerlei lustige Streiche zum Besten gaben. Oder, ganz ausgezeichnet, die Visualisierung der Arie „La calunnia è un venticello“ (die Verleumdung ist ein Lüftchen) des Musikmeisters Don Basilio durch zahllose schwarz gekleidete Männer, die aus ebenso vielen Türen kamen und sich die „Verleumdung“ zuflüsterten, bis diese zu einem Orkan anschwoll…
Oder, der originellste Regieeinfall: Das berühmte Gewitter in der Entführungsszene, das in sämtlichen Opernhäusern der Welt ziemlich einfallslos mit Blitz- und Regeneffekten auf die Bühne gebracht wird, hat Heiskanen als alten, melodramatischen Stummfilm gestaltet, in dem die Entführung auf der Burg Savonlinna endete: Man bog sich vor lachen… Und natürlich standen, auch dies gehört zum finnischen Humor, im Garten des stilisierten Hauses des Don Bartolo riesige Kakteen, in welche die Protagonisten stürzten oder an welche die arme Rosina wehrlos angebunden wurde…
Diese Rosina, verkörpert durch die brillante italienische Mezzosopranistin Laura Verecchia, verkörperte allerdings die „Italianità“, italienischen Charme und Schalk sowie den sprühenden Humor des Belcanto aufs großartigste: Mit ihrer wunderbar weichen, vor allem in den Tiefen harmonischen Stimme, erklimmt sie mühelos die steilen Leitern der Koloraturen. Sie verfügt über ein beachtliches Repertoire an zahlreichen Rossini-Partien, unter anderem am Rossini-Festival in Pesaro, glänzte aber auch schon im „Faust“ und in der „Carmen“.
Laura Verecchia war ganz klar einer der beiden Stars dieses wunderbaren Mitsommernachts-Abends in der finnischen Seenwelt, der andere war der russische Tenor Alexey Tatarintsev, dessen Lindorio-Almaviva erfüllt war von warmem, tenoralen Schmelz und doch zugleich präziser Sicherheit, mit der er Höhen und Tiefen meisterte. Tatarintsev, verbunden mit der Moskauer Novaya Opera, machte sich als herausragender Tenor in vielen anderen Rollen bemerkbar als Lensky (Turin), als Belfiore in Rossinis „Viaggio a Reims“, als Nemorino in „Elisir d‘ Amore“, als Romeo (Gounod) gewann er den Russischen Theaterpreis. Das sind Namen, die man sich merken sollte: Alexey Tatarintsev und Laura Verecchia. Der finnische Bariton Ville Rusanen gab einen frechen Figaro mit soliden gesanglichen Leistungen, ebenso der italienische Bassbariton Raffale Raffio, der einen stimmlich überzeugenden, humorvollen Bartolo verkörperte. Das Savonlinna Opera Festival Orchestra interpretierte diesen “Barbiere” spritzig, temperamentvoll und präzis – nur, zumindest im ersten Teil, im Überschwang der Premieren-Euphorie allzu dominant, wogegen die Sänger bisweilen akustisch anzukämpfen hatten. Komödiantisch agierte der Savonlinna Opera Festival Chor, vor allem während der Ouvertüre, als er ein ganzes Orchester pantomimisch darzustellen hatte.
Man verlässt die Burg von Savonlinna beschwingt und beglückt und tritt hinaus in die – eine Stunde vor Mitternacht – noch taghelle Seenlandschaft, in subtilen Blau- und Violett-Tönen – eine zart glühende Sommernacht über Savonlinna, die nie wirklich zur Nacht wird. Man freut sich schon auf die nächste Premiere am kommenden Abend: Rigoletto.
Die eigenwilligen Kostüme (namentlich jene von Figaro umd Rosina) stammten vom finnischen, international anerkannten Mode-Designer Teemu Muurimäki, der unter anderem für Armani und Dolce & Gabbana sowie den führenden finnischen Designer Marimekko arbeitet. Die farbenfrohen und hoch originellen Kostüme kompensierten das minimalistisch-schlichte Bühnenbild.
Charles E. Ritterband, 5. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigent: Frédéric Chaslin
Regie: Kari Heiskanen
Chorleiter: Marri Hyökki
Figaro: Ville Rusanen
Rosina: Laura Verecchia
Bartolo: Raffale Raffio
Graf Almaviva alias Lindoro: Alexey Tatarintsev
Basilio: Shavleg Armasi
Berta: Päivi Pylvänäinen
Offizier: Roman Chervinko
Savonlinna Opera Festival Orchestra
Savonlinna Opera Festival Choir