© Glyndebourne Productions Ltd, Photographer: Tristram Kenton
Glyndebourne, das Weltklasse-Opernfestival südlich von London, ist mit einer fulminanten Wiederaufnahme der Inszenierung des Jahres 2021 von Rossinis komischer Oper „Il turco in Italia“ in die Herbstsaison gestartet. In dieser sind die Preise für Sitzplätze zwar spürbar geringer und die Kleidungsvorschriften – in der von Mai bis August dauernden Sommersaison gelten strikte „Black Tie“ für Herren und Abendkleid für Damen – deutlich lockerer, dafür gibt es keine traditionell verlängerte Picnic-Pause im herrlichen Park neben dem 600-jährigen Landhaus mit dem spektakulären Orgel-Saal.
Gioachino Rossini, Il turco in Italia
Libretto: Felice Romani
Dirigentin: Olivia Clarke
Inszenierung: Mariame Clément
Bühne: Julia Hansen
Glyndebourne Sinfonia
Glyndebourne Chor (Leitung: Aidan Oliver)
Glyndebourne, 12. Oktober 2024
von Dr. Charles E. Ritterband
Die Einflüsse Mozarts sind unverkennbar – und namentlich „Così fan tutte“ und wohl auch, zumindest im Hinblick auf die Türken-Exotik, „Die Entführung aus dem Serail“ waren Pate gestanden, als das kreative Genie Rossini im Frühling 1814 in Mailand für die Scala seine brillant groteske Oper „Il turco in Italia“ schrieb: Denn zugleich lief an der Scala Mozarts „Così“…
Rossini soll seine Bewunderung für Mozart mit dieser Äusserung zum Ausdruck gebracht haben: Beethoven höre er sich einmal pro Woche an, Haydn viermal wöchentlich – und Mozart könnte er sich täglich anhören…
Ganz ähnlich wie bei Mozart liegt der Reiz von Rossinis Werk erstens in der Frivolität einer Ehefrau (bei Mozart sind es zwei unverheiratete Schwestern), die den Reizen eines exotischen Mannes, eben eines auf Besuch in Italien weilenden Türken, erliegt – während es bei Mozart bekanntlich die als balkanische Exoten verkleideten Verlobten der beiden Schwestern mit ihren stattlichen Schnurrbärten sind, welche die vermeintlich so standhaften junge Frauen „rumkriegen“, und zwar pikanterweise die Verlobte des Freundes…
Parallelen und Unterschiede zu Mozarts „Così“
Bei Mozart bleibt das Ende offen, während es im „Turco“ zur großen Krise kommt, als dem gehörnten und etwas tolpatischigen Ehemann Don Geronio endlich der Kragen platzt und er die ungehemmt mit dem Türken flirtende Ehefrau Donna Fiorilla mit Schimpf und Schande davon, zurück nach Hause jagt. Doch am Ende herrscht Verzeihen und dem Happy End steht nichts mehr im Wege. Die Weisheit der „Così“ liegt wohl darin, dass trotz aller Liebesschwüre die Mädchen die Identität ihrer verkleideten Verlobten nicht erkennen (oder nicht erkennen wollen) – so wenig kennt man den geliebten Partner/Ehemann, dass eine lächerliche Verkleidung genügt, um die Orientierung zu verlieren…
Und in beiden Opern gibt es einen Puppenspieler, der zynisch die Fäden zieht – Don Alfonso in „Così“ und im „Turco“ der Schriftsteller Prosdocimo (Ross Ramgobin). Dieser tritt schon während der Ouvertüre vor dem Vorhang als ziemlich gestresster Autor auf, der sich vor Fans während einer Signierstunde seiner offenbar äusserst erfolgreichen Bücher kaum zu retten vermag. Doch als sich der Vorhang hebt, fällt er einer Schaffenskrise anheim und muss doch eine Komödie fertigstellen, wozu ihm die Inspiration fehlt. Doch als er diese ausgerechnet in einem Zigeunerlager findet, beginnt sich die Handlung abzuwickeln.
In dieser Inszenierung, zumindest im ersten Akt höchst originell: Der Schriftsteller sitzt, sichtlich als Hauptperson, in der Mitte der Bühne und kämpft sich durch die Handlung seiner Komödie – er entwirft, streicht, komponiert allerlei Beziehungsschemen, verwirft wieder. Und, ausgezeichnete Idee: all diese Konzepte notiert er auf einem Blatt, das groß und somit für die Zuschauer mitvollziehbar auf eine Leinwand projiziert wird. Während der Schriftsteller seine Komödie konstruiert, handeln die Darsteller – sie sind gleichsam dessen Marionetten.
Bruch nach der Pause
Im zweiten Akt, nach der Pause, ändert sich der Stil: Hier wird plötzlich der Schriftsteller zweitrangig und bewegt sich in grotesker und nicht sehr stimmiger Weise und überlässt seinen nunmehr „empanzipierten“, selbständig gewordenen Figuren das Feld. Es ist nun auch nicht mehr die Schreibwerkstatt des Schriftstellers, welche die Bühne dominiert, sondern die völlig realistisch dargestellte Metzgerei/Wursthandlung des zunehmend in die Ehekrise geratenden Ehepaars.
Diese Zweiteilung der Inszenierung, der offensichtliche Stilbruch nach der Pause, wirkt irritierend – und wenn die Inszenierung im ersten Teil durchwegs ausgesprochen humorvoll und pointiert war, so schleppte sie sich im zweiten Akt eher mühevoll dahin, trotz anzüglicher Slapstick-Pointen mit den sich dafür geradezu anbietenden, wenn nicht gar aufdrängenden Wurstketten im Metzgergeschäft des Ehepaars. Eher bemüht wirkt auch die Einführung der ältlichen Freundin des Schriftstellers als stumme Figur – man fragt sich, was diese personelle Zutat eigentlich soll.
Dennoch – das Spektrum der Emotionen, die Rossini hier auf die Bühne bringt, übersteigt bei weitem die Eindimensionalität des nur Komischen: Da ist die echte Tragik des betrogenen, alternden Ehemanns Don Geronio, der in tapsiger Hilflosigkeit zuschauen muss, wie seine attraktive junge Ehefrau (ein Hauch Commedia dell’arte spielt hier ganz unverkennbar mit herein) den Reizen des machistisch-exotischen Türken anheimfällt – da sind Verwirrung, Scham, Reue und Melancholie. Der nur 22jährige Rossini legte in dieses Werk nicht nur Humor, sondern eine bemerkenswerte Vielfalt an Nuancen und Stimmungen, und nicht zuletzt einiges an Psychologie, an Einsicht in menschliche Schwächen…
Schade – denn musikalisch war diese Aufführung hochkarätig, wie man es sich in Glyndebourne auch nicht anders erwartet: spritzig und in bester italienischer Tradition die Glyndebourne Sinfonia unter der souveränen Stabführung von Olivia Clarke – schöne Horn- und Trompetensoli!, präzis und hochmusikalisch der Glyndebourne Chor unter der Leitung von Aidan Oliver.
Eine glanzvoll sprühende Fiorilla
Glanzvoll und sprühend die Donna Fiorilla der Inna Demenkova – eine herrlich warme, glanzvolle, flexible und in den Koloraturen trittsichere Stimme. Der Höhepunkt war natürlich die subtil und berührend vorgetragene, lange Abschiedsarie gegen Schluss des zweiten Aktes der bereuenden, resignierenden Fiorilla, die nun die Demütigung der Rückkehr zu ihren Eltern zu gewärtigen hat. Mit dieser überaus anspruchsvollen und entsprechend ebenso berühmten wie von den Sängerinnen gefürchteten Arie wurde Demenkova ohne Zweifel zum Star des Abends. Hervorragend lyrisch, mit viel Wärme in der Stimme die Zaida der Grace Durham.
Zwei ungleiche Bässe treten gegeneinander an: der solide aber als Ehemann offensichtlich langweilige Don Geronio des Fabio Capitanucci, mit gebührender stimmlicher Solidität interpretiert – und der machistische Frauenheld aus der fernen Türkei, der Selim des Michael Mofidian, mit einer herrlich sonor-tiefen, von mediterraner Wärme überströmender Stimme.
Dr. Charles Ritterband, 18. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Besetzung:
Zaida: Grace Durham
Alazar: Rhys Batt
Prosdocimo: Ross Ramgobin
Don Geronio: Fabio Capitanucci
Donna Fiorilla: Inna Demenkova
Selim: Michael Mofidian
Don Narciso: Agustin Gómez
Freundin des Dichters: Anna-Marie Sullivan (stumm)
Georg Friedrich Händel, Giulio Cesare Glyndebourne, 24. Juni 2024
Wolfgang Amadeus Mozart, Le Nozze di Figaro Glyndebourne, 9. Juni 2022
Georg Friedrich Händel, Rinaldo, Glyndebourne Touring Opera, 29. November 2019