Der Mailänder Don Carlo ist ein großer Wurf

Giuseppe Verdi, Don Carlo  Teatro alla Scala, 7. Dezember 2023 Premiere

Foto: Brescia e Amisano © Teatro alla Scala

Spielzeiteröffnung „Don Carlo“ in Mailand

Giuseppe Verdi    Don Carlo

Musikalische Leitung   Riccardo Chailly
Orchestra e Coro del Teatro alla Scala

Inszenierung   Lluís Pasqual

Besetzung: 

Jongmin Park (Il Grande Inquisitore)
Michele Pertusi (Filippo II)
Francesco Meli (Don Carlo)
Luca Salsi (Rodrigo)
Huanhong Li (Un monaco)
Anna Netrebko (Elisabetta di Valois )
Elīna Garanča (Principessa Eboli)
Elisa Verzier (Tebaldo)
Jinxu Xiahou (Conte di Lerma )
Rosalia Cid (Voce dal cielo)

Teatro alla Scala, 7. Dezember 2023 PREMIERE

von Kirsten Liese

Es war einer jener seltenen Abende, die an lange vergangene, goldene Zeiten der Oper erinnerten. Dies in erster Linie dank der prominenten, hochkarätigen Besetzung, aber nicht nur. Vielmehr zeigt sich nach schwierigen Anfängen mitten im Corona-Lockdown immer mehr die von einem guten Geschmack geprägte künstlerische Handschrift des Intendanten Dominique Meyer, der 2020 von Wien nach Mailand wechselte, und nun nach „Macbeth“ und „Boris Godunow“ mit dem „Don Carlo“ den bisherigen Höhepunkt seiner Ära erreicht.
Sein Vertrag währt noch bis 2025, ob es für ihn danach weitergehen wird, ist ungewiss, die italienische rechtskonservative Regierung würde ihn gerne durch einheimische Kulturmanager ersetzen. Eine Ironie des Schicksals, sollte doch gerade Meyer, der anstelle von radikalen Vertretern des Regietheaters auf Persönlichkeiten setzt, die Libretti ernst nehmen, den Idealen einer konservativen Regierung entgegenkommen.

Eine Chance zu erkennen, was sie an dem 68-jährigen Manager aus dem Elsass haben, jedenfalls hatten die Vertreter aus der Politik, die diesmal anstelle des Staatspräsidenten Sergio Mattarella in der Königsloge Platz nahmen: der stellvertretende Ministerpräsident Matteo Salvini, Kulturminister Gennaro Sangiuliano und Senatspräsident Ignazio La Russa, Mitglied der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia. Mattarella, der im vergangenen Jahr noch größeren Beifall bekam als die Künstler, und sich offenbar in Mailand großer Beliebtheit erfreut, blieb dem wichtigsten kulturellen Ereignis Europas demonstrativ fern, auch Premierministerin Giorgia Meloni ließ sich nicht blicken.

Dafür kam am Arm des Mailänder Bürgermeisters Beppe Sala die 93-jährige Senatorin Liliana Segre, eine der letzten Holocaust-Überlebenden. War das nun eher eine Groteske oder eine Provokation, dass sie und La Russa, dessen Karriere in der neofaschistischen Movimento Sociale Italiano begann, nebeneinander saßen? Im Saal jedenfalls fühlte sich so mancher einheimische Zuschauer provoziert, machte seinem Ärger noch vor der Nationalhymne mit Unmutsbekundungen gegen den Faschismus in Italien Luft.

Auch im Laufe des Abends kommt das Publikum nicht  zur Ruhe, worunter vor allem die leisen Stellen leiden. Ob im sanften Vorspiel zum dritten Akt oder dem wunderschönen elegischen Cello-Solo, das König Philipps Arie „Ella giammai m’amò“ („Sie hat mich nie geliebt“) im vierten einleitet:

Von allen Seiten überlagern störende Nebengeräusche die Musik. In den Logen klappern Türen, im Parkett kehren Vereinzelte zu spät aus der Pause zurück und wursteln sich noch auf ihren Sitzplatz, andere plappern lautstark,  räuspern sich oder spielen an ihren Handys herum. Von so schlechter Seite habe ich das Mailänder Publikum bislang noch nicht erlebt.

Vermutlich war das nicht unbedingt der Grund, warum Dirigent Riccardo Chailly am Ende lautstarke Buhrufe erreichten, aber verständlich wäre es.

Wie soll schon eine leise, schwermütige Musik berühren, wenn sie so beiläufig untergeht? Dass ein Dirigent Konzentration einfordern kann und wie das geht, hat unlängst erst Teodor Currentzis bei seinem jüngsten Auftritt in Berlin vorgemacht: Die Musik anhalten und demonstrativ warten bis alles still ist. Zur Not hätte man sich hier auch mit ein paar Worten an das Publikum wenden können.

Ansonsten wirkte Chailly auf mich wie immer, handwerklich solide, präzise in den Ensemble- und Chorszenen und darauf bedacht, dass Sängerinnen und Sänger niemals gegen ein zu lautes Orchester ansingen müssen. Allerdings hätte er dabei noch tiefer in die Musik vordringen dürfen: Elisabettas zärtlicher Abschied von ihrer Hofdame „Non pianger, mia compagna“ („Weine nicht, meine liebe Gefährtin“)  dürfte noch trostreicher tönen, der düstere, von den Kontrabässen eingeleitete Auftritt des Großinquisitors im vierten Akt, in dem der Konflikt zwischen Kirche und Krone kulminiert, weitaus bedrohlicher. Sublime Details sind seine Sache nicht.

Foto: Brescia e Amisano © Teatro alla Scala

Aber kommen wir zu den grandiosen sängerischen Leistungen, die für mich doch sehr nah dran sind an der unvergessenen Karajan-Produktion von 1976 bei den Salzburger Festspielen. Auch an der Scala ist man seitens der Aufführungsgeschichte sehr verwöhnt, die Messlatte liegt hoch: Ihre einzige Elisabetta auf einer Bühne überhaupt sang hier Maria Callas 1954, der übrigens im Scala-Museum anlässlich ihres hundertsten Geburtstags auch eine Ausstellung gewidmet ist, wo auch ihr Elisabetta-Kostüm in Augenschein genommen werden kann.

In späteren Jahren war in der Partie die unübertroffene Mirella Freni zu erleben. Die Titelpartie sangen alle berühmten Tenöre des vergangenen Jahrhunderts, Luciano Pavarotti, Plácido Domingo und José Carreras. Und der unvergessliche Nicolai Ghiaurov gab gleich mehrfach in den Jahren 1968 bis 77 einen höchst furchteinflößenden König Philipp.

Freni bleibt für mich auch nach der jüngsten Scala-Produktion mit ihrem sanft-warmen Timbre nach wie vor unübertroffen. Aber besser als Anna Netrebko, die allemal würdig in die Fußstapfen der genialen Vorgängerinnen tritt, könnte es aktuell keine andere. In der geforderten Tiefe wie zum Beginn ihrer Arie „Tu che le vanità“ verströmt die Russin eine warme Glut wie ein Mezzo, in den Momenten glücklicher Erinnerungen an ihre Liebe in Frankreich gelingen ihr in den Spitzen Pianotöne von betörender Zartheit. Und mit Francesco Meli hat sie einen Carlo an ihrer Seite, dessen schlank geführter schmelzreicher Tenor aufs Trefflichste mit ihrem Sopran in den Duetten harmoniert.

Die zweite Diva des Abends ist Elīna Garanča: Ihrer Eboli nimmt man es ab, dass sie hin- und hergerissen ist zwischen ihrer Liebe zum Infanten Carlo, ihrer Eifersucht auf die Königin und Schuldgefühlen wegen Verrats. Im  Moment ihrer Reue hätte ihre kühle Stimme sich ein bisschen wärmer färben dürfen, aber die virtuose Einleitung in ihrer großen Szene „O don fatale“ meistert die Lettin, agil in allen Lagen, mit Bravous. In aller Pracht wie Leuchtraketen feuert sie ihre Spitzentöne ab.

Foto: Brescia e Amisano © Teatro alla Scala

Luca Salsi empfiehlt sich als Marquis Posa mit lyrischen Qualitäten, bester Legatokultur und genauer Ausdeutung eines jeden Wortes seines Texts.

Allein die Partie des König Philipps bleibt zur Premiere schwach: Michele Pertusi, schon seit einem Monat Ersatz für René Pape, ließ sich  für seine hörbare Indisposition entschuldigen.

Der spanische Regisseur Lluís Pascal belässt das Drama um Freiheitskämpfe, eine verloren gegangene Liebe, Vater- und Sohn-Konflikte und Streitigkeiten zwischen Krone und Kirche im 16. Jahrhundert.

Franca Squarciapino hat dafür prächtige Roben entworfen, auf Daniel Biancos sparsam ausgestatteter Bühne ist die Inquisition mit zahlreichen eisernen Klostergittern und Toren allgegenwärtig. Den einzigen imposanten Lichtblick beschert der Szene vor dem Autodafé eine Ikonostase. An der Aufstellung des Personals zeigt sich dabei plastisch die Hierarchie im Konflikt zwischen Kirche und Krone: Oben thront der Großinquisitor (profunder Bass: Jongmin Park), Königin und König stehen darunter.

Streckenweise wirkt die Personenführung ein bisschen statisch, vielleicht erklärt das, warum das Regieteam starke Buhrufe entgegennehmen musste. Aber davon profitierte die Musik, sie hatte jederzeit die Vorfahrt.

In der weiteren Spielzeit geht es übrigens ähnlich vielversprechend weiter an der Scala: Im April wird der Dirigent Thomas Guggeis sein Debüt geben mit Mozarts „Entführung“ in einer unvergesslich legendären Inszenierung von Giorgio Strehler. Im Herbst folgen dann lang erwartete Dirigenten-Debüts von Christian Thielemann, der Wagners „Rheingold“ als Auftakt eines gesamten neuen Rings auftischen – und Kirill Petrenko, der sich mit Strauss’ „Rosenkavalier“ am Pult des Scala-Orchesters vorstellen wird.

Intendant Meyer ist wirklich ein Glücksfall für die Scala. Ich hoffe, Mailand weiß das zu schätzen.

Kirsten Liese, 9. Dezember 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Giuseppe Verdi, Don Carlos Staatsoper Hamburg, 26. November 2023

Don Carlos, Oper von Giuseppe Verdi Staatsoper Hamburg, 26. November 2023

Giuseppe Verdi, Don Carlos Staatsoper Hamburg, 23. November 2023

Giuseppe Verdi, Don Carlo Staatsoper Unter den Linden, Berlin, 8. Oktober 2023

2 Gedanken zu „Giuseppe Verdi, Don Carlo
Teatro alla Scala, 7. Dezember 2023 Premiere“

  1. Ich weiss nicht, welchen Don Carlo Frau Liese gesehen und gehört hat; der aus der Scala am Donnerstag kann es nicht gewesen sein.
    So viel Intonationsprobleme beim Tenor, so schwaches Singen unter Überbetonung einzelner gelungener Noten vom Sopran, so rollenfremde Interpretation beim Bariton hat man lange nicht erleben müssen. Dass der Königs-Bass erkältet war und der Inquisitor-Bass kurzfristig übernommen hat, muss hingenommen werden… Einzig die Eboli war in der engagierten Interpretation von Elīna Garanča wieder zu erkennen…
    Das Herumgestehe im nichtssagenden aber üppig goldenen Bühnenbild war vor 50 Jahren schon langweilig.

    Waltraud Becker

    1. Liebe Frau Becker,

      v.a. Ihre Kritik am Scala-Tenor teile ich vollends – allein, warum vermögen Ihre Ohren nie immer wieder auftretende „Probleme“ bei Ihrem Herzens-Tenor J.K. zu hören? Die jüngste Filmmusik-CD ist der reine Horror…

      Herzlich,
      AS

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