Otello/ Adele Lorenzi und Aldo Di Toro © Joerg-Landsberg
Eine schillernde Dekonstruktion toxischer Männlichkeit – Verdis „Otello“ am Theater Bremen
Ein Mord aus Eifersucht. Ein Held am Abgrund. Eine Liebe, die nicht überlebt.
Verdis Otello in der Inszenierung von Frank Hilbrich am Theater Bremen ist ein kraftvolles, modernes Musiktheater – voller Spannung, Tiefe und erschreckender Aktualität.
Otello
Oper in vier Akten von Giuseppe Verdi
Text von Arrigo Boito nach William Shakespeare
In italienischer Sprache mit deutschem Übertext
Regie: Frank Hilbrich
Musikalische Leitung: Sasha Yankevych
Theater am Goetheplatz, Bremen, 13. April 2025, Premiere
von Oxana Arkaeva
Am Sonntag, 13. April feierte Giuseppe Verdis Otello in der Inszenierung von Frank Hilbrich Premiere am Theater Bremen.
Hilbrich, der ab der Spielzeit 2026/27 als Generalintendant des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen wirken wird, setzt mit dieser Otello-Produktion seine erfolgreiche Reihe am Theater Bremen fort.
Er verlegt das Drama um Eifersucht, Intrige und Mord in einen modernen, schlichten Showroom (Bühne: Sebastian Hannak), der mit Laufsteg und kühlem Interieur an eine Fashion Week erinnert. Die Protagonistinnen und Protagonisten stellen sich dort zur Schau – oder werden gezwungen, sich einer teils demütigenden Öffentlichkeit preiszugeben. Die jeweils sparsam eingesetzte, aber künstlerisch hochpräzise Lichtgestaltung von Christian Kemmetmüller agiert als Sternenhimmel, als sterile Inkubator-Beleuchtung oder leuchtender Bilderrahmen und schafft eindrucksvolle atmosphärische Kontraste.
In Verdis Otello geht es um einen gefeierten Feldherrn, der heimlich die junge venezianische Adelige Desdemona heiratet. Sein Fähnrich Jago, getrieben von Neid und Hass, sät Zweifel an Desdemonas Treue und manipuliert Otello mit tödlicher Raffinesse. Im Wahn der Eifersucht ermordet Otello seine Frau – und nimmt sich das Leben, als er die Wahrheit erkennt.
„Ich kann mir selbst nicht entfliehen“, sagt Otello über sich. Ein kühner Krieger, der seiner dunklen Seite nicht entkommen kann. Ein außergewöhnlicher Mensch, der unter außergewöhnlichem innerem Druck steht – ein Außenseiter, der nie gelernt hat, mit seinen Gefühlen umzugehen. Sein psychischer Zustand ist der Schlüssel zur ganzen Oper: Er liebt – aber er vertraut nicht. Damit liefert er Jago, diesem Wolf im Schafspelz, eine perfekte Vorlage für seine Manipulationen und Machtspiele.
Die Frage nach Jagos Motiv gehört zu den spannendsten – und verstörendsten – der Oper. Dieser Jago ist kein rationaler Rächer, sondern ein radikaler Zyniker. „Ich glaube an einen grausamen Gott, der mich aus Dreck gemacht hat … Ich glaube an das Böse“, lautet sein Credo. Verdi und Boito zeichneten ihn nicht als gewöhnlichen Bösewicht, sondern als einen Abgrund. Ein kalter Regisseur des Geschehens – unfähig zu Mitgefühl, überzeugt davon, dass Liebe, Güte und Wahrheit Illusionen sind. Sein Ziel ist es, Otello zu vernichten – um jeden Preis. Desdemonas Tod ist für ihn ein gezielt geplanter Bestandteil seiner Zerstörungsstrategie – ein Beweis seiner Macht und seines Credos.
Die Bremer Otello-Produktion ist erschreckend aktuell – vielleicht sogar aktueller denn je. Obwohl die Oper im späten 19. Jahrhundert entstand und auf einem Drama aus dem 17. Jahrhundert basiert, verhandelt sie Themen, die tief in unsere Gegenwart hineinreichen: Macht, Rassismus, Misogynie, Gewalt, Identität – und das Gefühl, nicht dazuzugehören. Die Frage nach Hautfarbe wird dabei durch einen Perspektivwechsel aufgebrochen: Otello ist in dieser Inszenierung weiß. Die Darstellung des Femizids an Desdemona – grausam und unentrinnbar in der ersten Reihe, unmittelbar vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer – ein Echo gegenwärtiger Realität in vielen Beziehungen. Jagos psychologische Gewalt gleicht den Mechanismen moderner Desinformation: ein Spiel aus Halbwahrheiten, manipulierter Wahrnehmung und strategischer Destabilisierung.
Musikalisch überzeugt die Produktion unter der Leitung von Sasha Yankevych mit den Bremer Philharmonikern auf ganzer Linie. Der junge Erster Kapellmeister führt souverän durch den Abend und entlockt dem Orchester eine differenzierte Dynamik – vom zartesten Piano bis zu gewaltigen Orchesterausbrüchen.
Aldo Di Toro brilliert in der Titelrolle mit einem kraftvollen, nuancierten Tenor, der Otellos Zerrissenheit zwischen Liebe und Misstrauen eindrucksvoll und authentisch verkörpert. Seine Stimme ist technisch exzellent geführt, besitzt einen schönen Stimmsitz und strotzt vor klanglicher Brillanz.
Adele Lorenzi als Desdemona überzeugt mit federleichter, graziöser Bühnenpräsenz und einer ausdrucksstarken Sopranstimme, die ihre Figur als unschuldig und zugleich verletzlich zeichnet. Ihr dunkles Timbre erinnert stellenweise an Mirella Freni – doch ihre Interpretation bleibt eigenständig und berührend.

Michał Partyka gestaltet einen vielschichtigen Jago mit schlankem Bariton, dem stellenweise etwas stimmliche Durchschlagskraft fehlt.
Besonders hervorzuheben ist Ian Spinetti als Cassio – ein stimmlich wie darstellerisch überzeugender junger Tenor, dem man schon jetzt den zukünftigen Otello abnimmt.
Der exzellente Chor des Theater Bremen, einstudiert von Karl Bernewitz, übernimmt eine zentrale szenische Rolle. Er fungiert als Spiegel der Gesellschaft – zunächst als jubelnder Fanfarenchor des Ruhms, später als stumme Zeugin des moralischen Absturzes Otellos.
Trotz einiger inszenatorischer Unschärfen – etwa der nicht vollständig ausgearbeiteten Figuren von Otellos Eltern oder der wiederkehrenden Kindergestalten – gelingt dem Theater Bremen eine kraftvolle, musikalisch packende Neuinterpretation von Verdis Meisterwerk. Die Vielzahl junger Zuschauerinnen und Zuschauer im Publikum zeigt, dass das Theater nach wie vor ein gesellschaftlich relevanter kultureller Ort ist – für emotionale Erschütterung, kollektive Auseinandersetzung, durchdringende Reflektionen und tiefes emotionales Erleben im Hier und Jetzt.
Oxana Arkaeva, 15. April 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Weitere Vorstellungen am Mittwoch, dem 16. April um 19:00 Uhr sowie am 21. April um 15:30 Uhr. Mehr zur Produktion: www.theaterbremen.de/programm/otello
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