Foto © Studio Iris – Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H.
Grafenegg Festival, 8. – 10. September 2017
8.9. Tonkünstler-Orchester
Elisabeth Kulman, Sopran,
Christian Elsner, Tenor
David Afkham, Dirigent
Franz Schubert, Symphonie Nr. 7 h-Moll D 759, „Unvollendete“
Gustav Mahler, „Das Lied von der Erde“, Symphonie für Tenor, Alt und Orchester
9.9. London Symphony Orchestra
Janine Jansen, Violine
Semyon Bychkov, Dirigent
Benjamin Britten, Violinkonzert d-Moll op. 15
Gustav Mahler, Symphonie Nr. 5
10.9. Anja Harteros, Sopran
Wolfram Rieger, Klavier
Ausgewählte Lieder von Franz Schubert, Robert Schumann,
Hugo Wolf und Richard Strauss
In Grafenegg vereinen sich viele Dinge, die das Leben lebenswert machen: Musik, Natur, Architektur, Geschichte und Gegenwart, gutes Essen und guter Wein. Ein langes Wochenende in Grafenegg ist Balsam für die Psyche und die Physe. An diesem gesegneten Ort musizieren die ganz großen Orchester, Dirigenten, Solisten und Sänger dieser Zeit. Die drei vergangen Tage boten Musik auf Weltklasse-Niveau. Bravo!
Was das Grafenegg Festival vom 8. bis zum 10. September aufbot, war wirklich à la bonne heure – Tag 1: Franz Schuberts wunderbare Symphonie Nr. 7, die „Unvollendete“, dargeboten vom hervorragenden Tonkünstler-Orchester, dem Symphonieorchester des Bundeslandes Niederösterreich, unter dem feinfühligen Dirigat von David Afkham. Und Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ mit der Weltklasse-Sopranistin Elisabeth Kulmann.
Tag 2: Benjamin Brittens phantastisches Violinkonzert d-Moll; Mahlers geniale Fünfte – mit einem der anrührendsten Sätze der Musikgeschichte: dem Adagietto (Nr. 4).
Der angehende Weltstar Janine Jansen an der Violine, der Weltstar Semyon Bychkov am Pult, dazu das herausragende London Symphonic Orchestra. Mehr geht nicht.
Doch, es geht noch etwas mehr: Tag 3, Lieder-Matinee im Auditorium mit einem der einfühlsamsten Soprane der Welt: Anja Harteros. Begleitet vom wunderbaren Pianisten Wolfram Rieger: Franz Schubert, Robert Schumann, Hugo Wolf und Richard Strauss. Ein perfekter, ein unvergesslicher Auftritt mit einer Harteros, die von der ersten bis zur letzten Sekunde an Perfektion und Sinnlichkeit nicht zu überbieten war.
Künstlerischer Leiter des Grafenegg Festivals ist der Weltklasse-Pianist Rudolf Buchbinder, 70. Seit 2007 lädt das Festival Musikfreunde aus aller Welt auf dem Schlossareal von Grafenegg ein. Als Spielstätten dienen die 23 Meter hohe futuristische Open Air-Bühne Wolkenturm der Architekten Marie-Therese Harnoncourt und Ernst J. Fuchs, der Konzertsaal Auditorium sowie die historische Reitschule, die für Prélude-Konzerte und Einführungsgespräche genutzt wird. Orchestra in Residence ist das Tonkünstler-Orchester Niederösterreich.
Im 32 Hektar großen Schlosspark, gestaltet nach dem Vorbild eines englischen Landschaftsgartens, können die Besucher herrlich flanieren, vorbei am Schloss, an Teichen und Baumsolitären. Das Restaurant „Taverne Schloss Grafenegg“ des Haubenkochs Toni Mörwald bietet feine Speisen, darunter ein ganz vorzügliches Buffet für 39 Euro. Das Dreigang-Überraschungs-Menü kostet auch 39 Euro, die Weinbegleitung 17 Euro.
In Grafenegg sah man am Wochenende allerhand Musiker, die in der Pause und nach dem Konzert mit Angehörigen und Besuchern plauderten. Ein Großteil der 2000 Zuschauer (1700 Sitzplätze und 300 Rasenplätze im Wolkenturm) kommt schon sehr rechtzeitig nach Grafenegg, um auf der großen Wiese im Liegestuhl zu entspannen oder ein Glas Wein oder eine Cola zu trinken. „Nirgendwo ist man als Künstler seinem Publikum so nahe wie hier“, sagt Rudolf Buchbinder. „Und das ist, was ich an Grafenegg so liebe: Dass das Alte und das Neue hier so selbstverständlich miteinander verschmelzen. Denn darum geht es ja auch in der Musik: Es ist unsere Aufgabe, die großen Meister des Barock, der Klassik und der Romantik jeden Abend wieder in unsere Gegenwart zu stellen, indem wir ihre Partituren erklingen lassen. Musik ist die ewige Neuerfindung der immer gleichen Noten.“
Wenn Musik wirklich Teil des Lebens der Menschen sei, so Buchbinder, werde das an keinem anderen Platz der Welt so deutlich wie hier. In Grafenegg könne man sehen, wozu Musik imstande sei: „Sie ermöglicht Visionen. Sie schafft neue Räume. Sie verbindet Menschen. Und sie hat sogar die Kraft, eine ganze Region zu stimulieren und zu begeistern.“
Darauf ist auch Erwin Pröll, 70, sehr stolz, von 1992 bis 2017 mächtiger Landeshauptmann von Niederösterreich. „In Grafenegg ist uns tatsächlich ein Schwerpunkt der niederösterreichischen Kulturarbeit gelungen“, sagte Pröll im Gespräch mit klassik-begeistert.at . „Für uns ist Grafenegg eine unglaublich tolle Visitenkarte mit einem schönen Ambiente in perfekter Harmonie zwischen Kultur und der Natur im Park. Ein wunderbarer Ort auch für die nächste Generation.“
Erwin Pröll besuchte am vergangenen Samstag das Violinkonzert von Benjamin Britten und die legendäre Fünfte von Gustav Mahler. Der ehemalige Landesfürst war schwer angetan: „Das Konzert war ausgezeichnet. Die Niederländerin Janine Jansen hat auf ihrer Violine wie von einem anderen Stern gespielt – ich habe mich in eine andere Welt entführt gefühlt. So eine phantastische Geigerin habe ich noch nie gehört.“
Ja, es schien, als würde Jansen auf ihrer „Baron Gutman“-Stradivari aus dem Jahre 1707 singen, so himmlisch erklangen ihre Saiten. Besser kann man Brittens Violinkonzert nicht darbieten. Dazu spielte das London Symphony Orchestra in allen Orchesterteilen hervorragend. Das LSO wurde 2008 durch die britische Fachzeitschrift Gramophone nach der Auswertung einer Befragung von Musikkritikern auf Platz 4 der besten Orchester der Welt gesetzt. Es nimmt gegenwärtig den höchsten Rang aller britischen Orchester ein.
Vielleicht gibt es kein leidenschaftlicheres Liebesbekenntnis als das Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Symphonie: ein musikalischer Liebesbrief, die der Komponist seiner Frau Alma aus seiner Komponierhütte in den Bergen schickte. Seither gilt es als Synonym der Sehnsucht – und dieses Gefühl ließ der gebürtige Leningrader Semyon Bychkov ganz zart beginnen: Gerade, als er einsetzen wollte, zog ein Flugzeug über den Wolkenturm. Gut eine Minute lang war es zu hören, dann setzten die Musiker von der Insel butterweich und ganz langsam ein – ein unvergesslicher Moment.
Die Akustik im Wolkenturm war – bei allen Konzerten an diesem Wochenende – phantastisch, plastisch, transparent; die Live-Musik wird nur minimal durch Lautsprecher unterstützt. Und dann dieses Publikum: Wo sonst auf der Welt ist bei einer Open-Air-Veranstaltung kaum ein Huster, kaum ein Raschler und kein Handy zu hören?
Musik ist immer auch der Ausdruck des eigenen Zustands – und Hoffnung auf eine bessere Welt. Als Gustav Mahler sein „Lied von der Erde“ komponierte, war seine Tochter gerade gestorben, er hatte seine Position in Wien verloren, und es wurde bei ihm eine Herzkrankheit diagnostiziert. Das Ergebnis: Ein zutiefst ergreifender Liederzyklus, der am Freitag mit der grandiosen Sopranistin Elisabeth Kulman ein fulminantes Ende erfuhr. Gaaaaanz gefühlvoll hauchte die Österreicherin zum Schluss das Wort „ewig“ in das weite Rund – absolutes Gänsehautgefühl!
David Afkham und das Tonkünstler-Orchester hatten bereits zuvor bei Schuberts „Unvollendeter“ gezeigt, dass sie wunderbar miteinander harmonieren und arbeiteten die Mystik des Werkes fein heraus. Musikalisch blieben keine Wünsche offen.
„Natürlich fällt es uns in dieser Umgebung leichter, große Orchester und Künstler einzuladen“, sagt Rudolf Buchbinder, „viele genießen die Natur, das Umfeld, die offene Atmosphäre des Festivals. Grafenegg ist kein anonymes Festival, sondern ein Treffpunkt für Musiker mitten in der Natur.“
Die Stimme des Festival-Wochenendes war die Sopranistin Anja Harteros. Ihre Lieder im Auditorium gerieten zu einem Ausdruck an stimmlicher Vollkommenheit. Das war göttlich, Frau Harteros! Für den Herausgeber von klassik-begeistert.de und den Wiener Musikprofessor Reinhard Rauner war Harteros’ Auftritt einer der Höhepunkte in einem an Glanzlichtern nicht armen Klassik- und Opernlebens.
Da bot die Sopranistin alles, was eine Sängerin bieten kann: sie sang zart und intim, sie sang dramatisch, sie sang in feinstem Pianissimo und dann wieder im dramatischen Fortissimo. Immer sang die Deutsch-Griechin mit Seele, mit Devotion, mit dem Willen, das perfekte Lied darzubieten: ein Lied voller Wohlklang und deutlicher Phrasen. „Die Klangfarben dieser Frau sind ein Wahnsinn“, resümierte Professor Rauner, „Harteros’ Tiefe hat etwas Raumfüllendes, etwas Bedrohliches, die Höhe ist licht, klar und niemals schrill. Unter ihrer Oberfläche schlummert stets ein glühender Vulkan.“
Ja, und wenn die Sängerin singt wie eine Göttin, dann spielt auch ein herausragender Pianist wie der gebürtige Oberpfälzer Wolfram Rieger wie ein Gott. Das war an Behutsamkeit und Einfühlungsvermögen, an Präzision und Perfektion – kurz: an musikalischer Symbiose nicht zu überbieten – es war an diesem magischen Vormittag mit dieser magischen Sängerin keine bessere Klavierbegleitung denkbar als die des Wolfram Rieger. Ja, mit diesem Rieger kann die 45-Jährige alle windstillen wie stürmischen Passagen durchmessen. Harteros und Rieger gaben dem Wort Harmonie den vollkommenen Ausdruck.
So outstanding war ihr Vortrag, dass niemand der Zuhörer im Auditorium es wagte, sich zu bewegen oder gar zu hüsteln. Ja, wirklich: Es war kein einziges Hüsteln in eineinhalb Stunden zu hören! Die Zuhörer spürten: Dies ist ein magisches Musik-Paar! Dies ist ein magischer Musikvormittag! Und hielten still und inne…
War der erste Teil mit Liedern von Schubert und Schumann schon Weltklasse, so setzte das Duo im zweiten Teil noch eine Schippe drauf. Das war emotional zutiefst berührend – vor allem das Stück „Verborgenheit“ von Hugo Wolf. Richard Strauss liegt Anja Harteros besonders wunderbar – und so geriet die letzte, die dritte Zugabe „Morgen“, zu einem Fanal der Sinnlichkeit. Standing ovations:
Und morgen wird die Sonne wieder scheinen
und auf dem Wege, den ich gehen werde,
wird uns, die Glücklichen sie wieder einen
inmitten dieser sonnenatmenden Erde…
und zu dem Strand, dem weiten, wogenblauen,
werden wir still und langsam niedersteigen,
stumm werden wir uns in die Augen schauen,
und auf uns sinkt des Glückes stummes Schweigen…
Andreas Schmidt, 11. September 2017, für
klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.de