Foto: Grigory Sokolov © Klaus Rudolph
Kölner Philharmonie, 29. Mai 2023
„The Same Procedure as Every Year” in der Philharmonie, wenn auch stets mit anderem Programm
Grigory Sokolov, Klavier
von Brian Cooper, Bonn
„Ende gegen 21:50.“ Bei der üblichen Kölner Anfangszeit von 20 Uhr entlockt einem eine solche Angabe im Programmheft auch noch nach Jahren stets ein Schmunzeln, wenn der große Grigory Sokolov einen Klavierabend gibt. Denn man darf durchaus von bis zu sechs Zugaben ausgehen. Es ist sogar möglich, dass der Zugaben-Block regelrecht zu einem dreiviertelstündigen dritten Teil wird, wie weiland in Essen beim Klavier-Festival Ruhr, wo er mal vier oder fünf Schubert-Impromptus spielte, wenn ich mich recht entsinne… Oder waren es auch damals gar sechs, und es ging über eine Stunde?
Geradezu kultisch verehrt wird dieser russische Pianist inzwischen, und im Saal ist die Stimmung immer etwas anders, als wenn Grimaud, Andsnes, Hamelin oder wer auch immer spielt. Es wird gejohlt beim Applaus. Sokolov ist längst kein „Geheimtip“ mehr, wurde aber jahrzehntelang als solcher gehandelt – lange, bevor man das Wort Geheimtip mit zwei P und Spaghetti ohne H schrieb. (Was die sprachfernen grauen Gesellen der Falschschreibreform damals nicht bedachten: Folgerichtig müssen wir nun „Spadschetti“ sagen. Und „Dschetto“ statt Ghetto. Aber ich schweife ab.)
Vielleicht war mal was dran an diesem „Geheimtip(p) Sokolov“: Ich erinnere mich noch an einen hinreißenden Abend, an dem er in Köln Scriabin (u.a. Vers la flamme) und Schubert einander gegenüberstellte. Das ist ziemlich lange her. Die Philharmonie damals: halbleer.
Nicht so an diesem Abend. Nahezu ausverkauft ist es. Und das bei Purcell und Mozart! Fast jedes Jahr macht Grigory Sokolov auch in Köln halt. The same procedure as every year. Der Termin für die kommende Saison ist auch schon fix, 30. Mai 2024. In Düsseldorf war er in dieser Saison schon (eine liebe russische Freundin, die ihn sehr schätzt, war ausnahmsweise enttäuscht), und zum Klavier-Festival Ruhr kommt er noch. Man kann also, wenn man im Rheinland zuhause ist, ohne viel Aufwand dasselbe Programm dreimal hören, wenn man das möchte.
Zumindest einmal hören lohnt sich, denn die erste Hälfte fördert Schätze zutage, die man sonst so gut wie nie auf einem Steinway hört. Der Großmeister hat eh carte blanche, was die Auswahl seiner Programme betrifft. Und so kommt man in den seltenen Genuss, 17 kürzere Stücke für Tasteninstrumente von Henry Purcell zu hören, jenem Meister des englischen Hochbarock, zählt man die Sätze der drei Suiten (Nr. 2, 4 und 7) einzeln. Ohne Zwischenapplaus folgt ein Werk aufs Andere.
Man wäre zu gern dabei gewesen, als Purcell Samuel Pepys aufsuchte, um auf dessen Cembalo zu spielen, vielleicht auch zu improvisieren und zu komponieren. Dieses interessante Detail steht im Programmheft; angeblich besaß Pepys das beste Instrument in ganz London.
Unter Sokolovs Händen wird Purcells Musik zum Ereignis. Besonders für all jene, die ohnehin seinen Bach und seinen Rameau lieben. Genau hier zeigt sich besonders anschaulich bzw. -hörbar dieses Phänomen Sokolov, wie übrigens auch im Mozart: Es ist zugleich kraftvoll einerseits, andererseits leicht und zärtlich, und der Schattierungen und unterschiedlichsten Farbtupfer dazwischen ist kein Ende. Wer seine Aufnahme der c-Moll-Partita BWV 826 kennt (Naïve), versteht, was ich meine.
Überhaupt ist Sokolov einer der ganz wenigen Pianisten, bei denen mir völlig wumpe ist, was er spielt. Man hat ja so seine Vorlieben, was Werke und deren Interpretinnen und Interpreten angeht. Von Sokolov höre ich überaus gern Barockmusik, Wiener Klassik inklusive Schubert, das gesamte russische Repertoire, Chopin – eigentlich alles. So ergeht es mir nur noch bei Pollini. Der kann Stockhausen spielen oder die Hammerklaviersonate, wahrlich nicht mein liebstes Werk: Ich gehe hin.
Es sind konzentrierte 40 Minuten Purcell. Das Saallicht ist wie immer extrem gedimmt, der Flügel wie immer arg weit hinten positioniert. Grigory Sokolov spielt versonnen, versunken, mal hebt er hier eine Melodie der linken Hand hervor, mal dort einen Triller in der rechten. Man lauscht gebannt und wünscht sich die trotz großer Zuhörerzahl nur wenigen – dafür aber hartnäckigen – Huster auf den Mars, die mit ihrem Auswurf eine nämlich ansonsten aufmerksam-konzentrierte Stimmung entweihen.
Die Mittzwanzigerin zu meiner Linken schafft die 40 Minuten auch nicht, ohne immer wieder kurz auf ihrem Endgerät zu verifizieren, dass man sie noch mag. Das Smartphone liegt in ihrem Schoß; nach der Pause befindet es sich zusätzlich in einer dieser Handtaschen, die nur mit einem geräuschvollen Schnappen schließen. Das kennen Sie, nicht wahr? Auch schon mal erlebt? Nun, vielleicht ist ja wirklich bei der nächsten Marsmission noch ein Plätzchen frei.
Unter diesen sehr schönen, von Purcells Witwe herausgegebenen Werken, die auf dem Konzertflügel herrlich klingen, findet sich eine seiner bekanntesten Melodien: „Round O ZT 684“ aus der „Abdelazer Suite“. Woher kennt man es nur? Benjamin Britten verwendete es in seinem Young Person’s Guide to the Orchestra.
Auch in Mozarts „Linzer Sonate“, in Kennerkreisen wegen ihrer schönen Köchel-Nummer lapidar als Dreidreidrei bezeichnet, ist Sokolovs Anschlag durchaus immer wieder hart, aber selbstredend nie grobschlächtig. Er nimmt Mozart all das Zuckrige, dessen das arme Wolferl zu Unrecht beschuldigt wird – wer es nicht glaubt, höre das anschließende Adagio h-Moll. Übrigens wurde auch in der zweiten Konzerthälfte trotz des harten Schnitts von B-Dur nach h-Moll erst am Ende applaudiert, dafür dann umso mehr.
Sokolovs Mozart höre ich gern, im Gegensatz zu jenem seines Landsmanns Pletnev, den ich dafür in anderem Repertoire (Tschaikowsky!) sowie als Dirigenten schätze. Unter Sokolovs Händen wirkt KV 540 regelrecht visionär, verblüffend modern, erschütternd. Diese Wendung nach H-Dur am Ende, die Modulationen davor: sehr genial komponiert, und sehr aufregend interpretiert.
Dann folgt das Zugaben-Ritual. Gemessenen Schrittes – im Frack, die linke Hand oft leicht am Rücken, wie ein versonnener Kellner in einem piekfeinen Lokal wirkend (manche mögen auch an Dinner for One denken) – geht Sokolov von der Bühne, kommt wieder, verbeugt sich, geht wieder, kommt wieder, verbeugt sich, setzt sich an den Flügel und spielt. Sechs (in Zahlen: 6) Zugaben. Darunter ein aufregendes Regentropfen-Prélude, fantastischer Rameau und ein wahnsinnig toll gespieltes Rachmaninow-Prélude. Dankenswerterweise sind alle Zugaben auf der Homepage gelistet; da steht die Kölner Philharmonie dem Klavier-Festival Ruhr in nichts nach.
https://www.koelner-philharmonie.de/de/programm/grigory-sokolov/2735
Dr. Brian Cooper, 30. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Programm:
Henry Purcell (1659-1695)
Ground in Gamut G-Dur Z 645
Henry Purcell
Suite Nr. 2 g-Moll Z 661
Henry Purcell
A new Irish tune G-Dur Z 646
»Lilliburlero«
Henry Purcell
A New Scotch Tune, C-Dur Z 655
»Peggy I must love you«
Henry Purcell
Trumpet Tune, called the Cibell C-Dur Z T678
Henry Purcell
Suite Nr. 4 a-Moll Z 663
Henry Purcell
Round O d-Moll Z T684
Henry Purcell
Suite Nr. 7 d-Moll Z 668
Henry Purcell
Chaconne g-Moll Z T680
Pause
Wolfgang Amadeus Mozart
Sonate für Klavier B-Dur KV 333 (315c)
»Linzer Sonate«
Wolfgang Amadeus Mozart
Adagio h-Moll KV 540
für Klavier
Grigory Sokolov, Klavier, Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 13. März 2022