Grigory Sokolov © Oscar Tursunov
Leider scheint es um die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen nicht gut bestellt. Auch in diesem Blog wurden wir jüngst vom Herausgeber gebeten, unsere Texte etwas kürzer zu halten. Warum eigentlich sollten wir uns der johlenden (klickenden) Mehrheit anpassen, anbiedern? Werden Konzerte künftig nur eine Stunde dauern dürfen, weil manche 2:40 h nicht schaffen?
Das Publikum in der Kölner Philharmonie johlt, pfeift und hustet im zweiten Teil; im ersten geht es hingegen erstaunlich sakral zu.
Johann Sebastian Bach (1685-1750) – Duette aus Klavierübung III BWV 802–805 für Klavier; Partita für Klavier c-Moll BWV 826 aus Klavierübung I
Frédéric Chopin (1810-1849) – Mazurken op. 30 & op. 50
Robert Schumann (1810-1856) – Waldszenen op. 82
Grigory Sokolov, Klavier
Kölner Philharmonie, 30. Mai 2024
von Brian Cooper, Bonn
Das Phänomen ist nicht zu fassen. Es bleibt unfassbar. Alljährlich beehrt Grigory Lipmanowitsch Sokolov die Kölner Philharmonie, und auch nach all diesen Jahren ist jeder lange Klavierabend des Petersburger Meisters etwas Besonderes. In etlichen Klassikforen gibt es interessante Diskussionen über Rituale, distanziertes Auftreten, Zugaben und so fort. Sokolov lächelt allenfalls kurz bei der Blumenübergabe.
Wenn er sich an den – in Köln wie immer perfekt disponierten – Steinway D-274 setzt, ist das Licht stets stark gedimmt; der Flügel steht weit hinten auf der Bühne. Same procedure as every year. Immerhin haben die meisten die ungewöhnliche Anfangszeit von 19 Uhr auf dem Schirm: keine Unruhe durch verspätet Eintreffende.
Im ersten Teil geht es geradezu sakral zu. Das Publikum in der ausverkauften Philharmonie lauscht aufmerksam. Es gilt, nichts zu verpassen. Sokolov ist einer der herausragenden Bach-Interpreten unserer Zeit, und er bestreitet die gesamte erste Hälfte mit dem größten Komponisten aller Zeiten. Jedes der vier vermeintlich schlichten Duette – der Beginn von BWV 803 könnte ein Kinderlied sein – erweist sich unter Sokolovs Händen als wahres Kleinod von kühner Komplexität in puncto Harmonik, Stimmführung und dem Ur-Wort, wenn es um Bach geht: Form.
Das Hochamt setzt sich ohne Zwischenapplaus fort mit der c-Moll-Partita BWV 826, einem Fixstern in Sokolovs unendlich langer Karriere. Die sprichwörtliche Musik für die einsame Insel, in einem Rundfunk-Format wie Desert Island Discs oder Klassik, Pop, etc., müsste zwangsläufig ein Bach-Werk enthalten. In meiner engeren Wahl stünde neben Glenn Gould und Dinu Lipatti auch Sokolovs Aufnahme der c-Moll-Partita von 1982 (Naïve, OP 30346). Er spielt sie so ganz anders als Krystian Zimerman, und an diesem Abend auch so ganz anders als er selbst in seiner eigenen Aufnahme: Der letzte Satz ist aufreizend langsam.
Doch in allen sechs Sätzen, ob schnell oder langsam, ob tänzerisch oder schnatternd, haben sämtliche Linien ein Ziel. Mal meißelt Sokolov eine Linie hervor, mal bewegen sich seine elegant anzusehenden Hände spielerisch ineinander. Stets ist es ein Hochgenuss, es ist Perfektion, und dieser Bach klingt bei Sokolov auf dem modernen Steinway so zeitgemäß, so stringent und absolut mitreißend, dass man ihn nie anders hören will. Es ist ein Sog, ein herrlicher Strudel, in den man da gerät. Benommen fällt man in die Pause.
Im zweiten Teil fällt die Aufmerksamkeit des Publikums stark ab. Es wird gehustet – nein: gekotzt –, was das Zeug hält. Und zwar so, dass mehrfach ein hörbares Raunen des Entsetzens durch den Saal wabert: wie denn ein Dutzend Menschen so respektlos, ungezogen und so laut Geräusche absondern können, ohne die mindeste Anstrengung zu unternehmen, diese zu unterdrücken.
Der Künstler selbst bleibt wie immer stoisch, spielt einen bezaubernden, agogisch freien Chopin; es sind sieben Mazurken, von denen jene in cis-Moll besonders berückend gerät, was insofern erstaunt, als die letzten Akkorde der vorangehenden Mazurka in Des-Dur von einer Frau in Block D aufs Absurdeste mit akustischem Erbrochenen entweiht werden.
Schumanns Waldszenen hört man allzu selten, und doch staunt man, wie bekannt einem die neun Klavierstücke vorkommen. Dafür, dass sie „auf der Lauer“ sind, lassen es die Jäger ganz schön krachen, wie auch im majestätischen Jagdlied. Der Abschied ist von exquisiter Wehmut, aber es ist der Vogel als Prophet, der einen – Satie vorwegnehmend – völlig in den Bann zieht.
Handyfotos, Johlen, Pfeifen, rhythmisches Klatschen: All das passt nicht zu dieser würdevollen Gestalt, die irgendwie nicht von dieser lauten Welt zu sein scheint, wenn sie die Bühne betritt und verlässt. Kurz möchte man so sein wie er: sich ganz der Kunst verschreiben und sich von den anderen Menschen nicht stören lassen. Bei Udo Lindenberg heißt das: „Ich mach’ mein Ding“.
Der Zugaben-Block, den das Publikum „aufgrund unserer desolaten Leistung in der zweiten Halbzeit nicht verdient“ hat, wie der Fußballer sagt, besteht wie fast immer aus sechs Teilen, von denen die ergreifende Bach-Bearbeitung, an sechster und letzter Stelle, aufs Schönste den Bogen zum Beginn eines denkwürdigen Konzertabends zurückführt.
Leider scheint es um die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen nicht gut bestellt. Auch in diesem Blog wurden wir jüngst vom Herausgeber gebeten, unsere Texte etwas kürzer zu halten. Warum eigentlich sollten wir uns der johlenden (klickenden) Mehrheit anpassen, anbiedern? Werden Konzerte künftig nur eine Stunde dauern dürfen, weil manche 2:40 h nicht schaffen?
Dr. Brian Cooper, 1. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klavierabend Grigory Sokolov Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 22. Mai 2024
Lieber Herr Cooper,
danke für diesen Beitrag! Stellen Sie sich vor, ich schaffte es, ihn vom Anfang bis zum Ende konzentriert zu lesen! Scheinbar hebt mich diese (so selbstverständliche) Tatsache schon von der Mehrheit ab. Amüsiert hat mich Ihre Überlegung, ob wohl auch die Gefahr besteht, dass Konzertlängen an das moderne Aufmerksamkeitsdefizit angepasst werden. Wagner und Kollegen hätten in diesem Fall eindeutig das Nachsehen und natürlich all jene Menschen, denen es tatsächlich gelingt, mehrere Stunden STILL zu lauschen und die dabei auch noch Genuss empfinden. Sie können dankbar für den, wie Sie schreiben, sakralen ersten Teil sein. Das ist leider keine Selbstverständlichkeit.
Es ist ein Zeichen unserer modernen Zeit, dass alles schnell, kurz und bündig daher kommen muss. Leider fürchte ich, dass das nicht mehr umkehrbar ist.
Mich treibt die Frage um, inwieweit ich das alles bedienen möchte und wo es Sinn macht, mich dagegen aufzulehnen, da ich diese Entwicklung befremdlich finde. Eine befriedigende Antwort fand ich noch nicht, leider!
Hoffnung geben mir all jene Menschen, gerade aus den jüngeren Generationen, die den Versuch unternehmen, sich auf das Wesentliche des Lebens zurückzubesinnen.
Mögen sie nicht scheitern!
Herzlich,
Kathrin Beyer
Liebe Frau Beyer,
vielen Dank für Ihre schönen und interessanten Anmerkungen!
Herzlich,
Brian Cooper
Vielen Dank, Herr Cooper, für Ihre Ausführungen!
Klare Meinung, Emphase und inspirierende Diktion regen an, über diesen einzelnen Abend hinaus!
Tim Theo Tinn
Der unermüdliche Maestro war mit dem Programm am 22. Mai auch in Wien, aber wir boten ihm, was ihm zusteht. Volle Publikumskonzentration für beide Teile – stimmt, die Waldszenen hören wir wirklich selten – und danach ab zu den (obligaten) 6 Zugaben. Ende, Licht an, großer Beifall, kaum Handyfotos. Eine weitere Wiener Sternstunde von Maestro Sokolov. 2025 kommt er wieder nach Wien.
Frikra