Gänsehaut und feuchte Augen: Tarmo Peltokoski debütiert beim Gürzenich-Orchester

Gürzenich-Orchester Köln, Programm Nordwind  Kölner Philharmonie, 5. Februar 2024

TARMO PELTOKOSKI, 2021 © www.peterrigaud.com

Ein durchweg überzeugender Abend mit dem jungen Finnen und einem formidabel aufspielenden Jan Lisiecki. Und nebenbei eine Intendanten-Sternstunde!

Esa-Pekka Salonen (*1958) – Helix für Orchester

Edvard Grieg (1843-1907) – Klavierkonzert a-Moll op. 16
Jean Sibelius (1865-1957) – Sinfonie Nr. 2 D-Dur op. 43

Gürzenich-Orchester Köln

Jan Lisiecki, Klavier
Tarmo Peltokoski, Dirigent

Kölner Philharmonie, 5. Februar 2024

von Brian Cooper, Bonn

„Nordwind“ lautete das Motto dieses Gürzenich-Programms im mild-kühlen Februar – vermutlich, weil alle drei an diesem Abend gespielten Komponisten aus Skandinavien kommen.

Auch der junge Dirigent des Sinfoniekonzerts, Tarmo Peltokoski, 23, ist Skandinavier; Finne, um genau zu sein. Woher sollte er sonst kommen, mag man fragen, angesichts der Vielzahl guter finnischer Dirigentinnen und Dirigenten. Wie so viele war Peltokoski beim „Dirigentenmacher“ Jorma Panula in der Lehre. Und mit dem heutigen Programm gab er sein Debüt beim Gürzenich-Orchester, dessen „Scouting-Abteilung“, um einen Begriff aus der Sportwelt zu bemühen, ein sehr glückliches Händchen für aufstrebende Dirigenten hat: Ich erinnere mich noch gut an das Gürzenich-Debüt eines gewissen Gustavo Dudamel, der weiland mit einem grandiosen Strauss’schen Don Juan aufs Podium sprang.

Der zum Auftakt gespielte Komponist, Esa-Pekka Salonen, ist im Hauptberuf ein erfolgreicher Dirigent mit Legendenstatus (hören Sie mal seine Sacre-Aufnahme mit dem Los Angeles Philharmonic!), wendet sich jedoch wieder mehr dem Komponieren zu. In besonderer Erinnerung ist mir sein Werk Nyx, das das New York Philharmonic unter Alan Gilbert vor etlichen Jahren nach Europa brachte. (Der Kalauer „Ich war neulich in der Philharmonie de Paris und habe Nyx gehört“ entlockte Freunden seinerzeit nur ein müdes Lächeln. Völlig zu Recht. Witze, die man erklären muss…)

Nun also Helix, ein atemberaubendes, neunminütiges Crescendo, angesiedelt irgendwo zwischen Bernstein und Boléro. Ich fühlte mich auch sehr an Arthur Honeggers Pacifique 231 erinnert. Was kann Salonen orchestrieren, Du lieber Himmel! Schlagwerk, Holz, Blech, dichter Streicherklang: Peltokoskis makellose Zeichengebung ist elegant und präzise, eine Augenweide, seine feingliedrigen Finger fordern viel, und er bekommt einen Sound zurück, der Salonens Partitur als grandiose Orchestermusik für unser 21. Jahrhundert in den Saal bringt. Fabelhaft.

Peltokoski macht beim Applaus eine pathetische Geste, die ich jedoch sehr schätze: Er hält die Partitur hoch, der Applaus gelte doch dem Komponisten. Doch was wäre dieser ohne Orchester?

Es folgt Griegs Klavierkonzert. Der Flügel steht schon auf der Bühne und wird zur Bühnenmitte gerollt. In der Reihe hinter mir sitzt der Intendant der Philharmonie, Louwrens Langevoort, und ich höre seine Stimme, die streng, aber äußerst höflich, die ältere Dame neben ihm zurechtweist. Es sei „überaus störend“, wenn sie Fotos mache. „Nur eins oder zwei?“, bettelt sie. Es werde nicht über die Anzahl verhandelt, so Langevoort. Das Unglaubliche: Die Dame zückte weiter ihre Kamera.

Diese zufällig erlebte Intendanten-Sternstunde sei hier zum Anlass genommen, die Kölner Philharmonie eindringlich zu bitten, doch vor Konzertbeginn eine klar verständliche Ansage abzuspielen: Husten unterdrücken, die Armbeuge oder ein Taschentuch finden, Handys ausschalten, Rücksicht nehmen, Respekt zeigen.

Das Husten war für Kölner Verhältnisse an diesem Abend moderat. Dennoch reichen immer etwa zwei Dutzend Unbelehrbare, um den Abend ein wenig zu trüben.

Jan Lisiecki © Holger Hage

Vor fast genau einem Jahr hatte das Kölner Publikum das Vergnügen, Jan Lisiecki mit Griegs Klavierkonzert zu erleben. Mein im Foyer zufällig angetroffener Bekannter „Wotan“ aus dem Ruhrgebiet war mit mir einer Meinung, dass es heute mindestens so gut war. Denn das Zusammenspiel zwischen Dirigent und Solist war unglaublich bemerkenswert. Lisiecki hört aufmerksam auf das Orchester – auch, wenn er nicht spielt, bewegt sich sein Oberkörper zur Musik. Er ist voll und ganz drin im Grieg, seine Anschlagspalette ist unheimlich breit, ebenso wie die Skala zwischen Drängen und Auskosten: Jan Lisiecki spielt so souverän, er kann hart wie zart, die Gänsehaut stellt sich beim Hörer pünktlich ein, im Finale werden die Augen feucht. Da haben sich zwei Charismatiker gefunden, der eine knapp 24, der andere knapp 29. Die Kadenz im ersten Satz gerät grandios, nur stören leider hässliche Geräusche aus Mündern, Rachen, Lungen und Endgeräten, auch während des wunderbaren Regentropfen-Préludes, das Lisiecki zugab, und das ihn schon jetzt als einen der großen Chopin-Interpreten unserer Tage ausweist.

Sibelius’ Zweite meinte ich recht gut zu kennen, zumal sie neben seiner Fünften am häufigsten gespielt wird. Doch hier blieb der Notizblock zu, ich schreibe über einen Gesamteindruck; zu viele Details wären erwähnenswert.

Das hier so exzellent geprobte Werk plätschert sonst gar so oft dahin, man wartet auf die einschlägigen Stellen und genießt den Rest. Doch hier zeigte der auswendig dirigierende Peltokoski – und ich erinnere noch einmal an sein Alter – eine wahrlich bemerkenswerte Lesart. Die Zweite ist nämlich sperriger, als man vielleicht dachte, sie ist zerklüftet, besteht aus „Puzzleteilen“, wie einer meiner beiden Begleiter hinterher anmerkte.

Im Programmheft ist von bis zu zehn Themen die Rede. Das Orchester bewies wie im Grieg einen gewissen Grad an „Schmutzigkeit“, und das ist beileibe nicht despektierlich gemeint: In diesem Moment wollte man das nicht etwa von den Wienern hören, sondern vom Gürzenich unter Tarmo Peltokoski. Und das ist ein Kompliment. Alle Orchestergruppen waren toll aufgelegt. Die acht Holzbläserinnen und -bläser, das Blech (trotz minimaler Ansatzprobleme), die pizzicati in Bässen und Celli im zweiten Satz, die Apotheose zum Ende. Peltokoski hampelt wie der junge Nelsons beim vorletzten Akkord, um den Plagalschluss zu untermauern: Ganz ehrlich, das kann man einem 23-jährigen nachsehen, klanglich kam genau das raus, was gewünscht war.

Statt des üblichen Abokonzerts am Dienstag wird unter dem Motto „Bock auf Klassik?“ dasselbe Programm nochmal geboten – dann allerdings nur für junge Erwachsene bis einschließlich 28 Jahren und für 8 Euro die Karte.

Die haben Glück, denke ich, und einige von ihnen dürften angefixt werden. Darüber kann man sich nicht beklagen. Und wenn DJ Leon Weber alias LCAW und der Gürzenich-Schlagzeuger Uwe Mattes hinterher zu einer performance von Steve Reichs Six Pianos in einer Adaption für Live-Elektronik mit Marimba einladen, „Freigetränk inklusive“, dann sind die Menschen zu beneiden!

Dr. Brian Cooper, 6. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Asmik Grigorian, Matthias Goerne, Dirigent Tarmo Peltokoski Elbphilharmonie, 22. März 2023

Deutsche Kammerphilharmonie Bremen, Chen Reiss, Sopran Großer Saal der Bremer Glocke, 19. Januar 2024

Royal Philharmonic Orchestra, Jan Lisiecki, Klavier, Vasily Petrenko, Dirigent Kölner Philharmonie, 31. Januar 2023

Jan Lisiecki, Edward Gardner, London Philharmonic Orchestra, Elbphilharmonie, 20. November 2021

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