Bei dieser Auferstehungssinfonie verzaubern vor allem die feinfühligen Details

Gustav Mahler, Sinfonie Nr. 2 in c-Moll  Kölner Philharmonie, 11. September 2023

Mirga Gražinytė-Tyla, Foto: Thomas Grill

Kölner Philharmonie, 11. September 2023

Münchner Philharmoniker
Philharmonischer Chor München

Mirga Gražinytė-Tyla, Dirigent

Andreas Herrmann, Chorleitung

Talise Trevigne, Sopran
Okka von der Damerau, Mezzosopran

Gustav Mahler – Sinfonie Nr. 2 in c-Moll für Sopran, Alt, Chor und Orchester – „Auferstehungssinfonie“

von Daniel Janz

Mahler 2 – was haben wir in Köln doch lange darauf warten müssen! Eigentlich stand dieses einmalige Werk schon 2020 auf dem Spielplan der kölner Philharmonie. Damals hätten Lahav Shani und das Rotterdams Philharmonisch Orkest es aufführen sollen. Dann aber machte Corona alledem einen Strich durch die Rechnung. So kommt es, dass Mahlers Werk über Tod, Auferstehung, Jüngstes Gericht und Eintritt ins Himmelreich erst heute endlich wieder in diesem Saal erklingt.

Gustav Mahlers gigantische zweite Sinfonie ist eines der bedeutendsten Werke der Spätromantik und das Werk, das ihm weltweitem Ruhm brachte. Zeitgenossen taten sich mit seiner auch als „Auferstehungssinfonie“ bekannten Komposition noch schwer und fassten sie eher negativ auf. Trotzdem trat das 1895 uraufgeführte Werk über die Zeit einen regelrechten Siegeszug an. Heute gehört sie zu den beliebtesten Mahler-Sinfonien, obwohl sie verhältnismäßig selten aufgeführt wird.

Grund für die Verschmähung dieser Ausnahmemusik kann nur die riesige Besetzung sein: Mahler verlangt ein großes Orchester mit besonders reicher Bläserbesetzung, Fernorchester, eine Schlagzeugabteilung, die selbst mit Hector Berlioz mithalten kann, zwei Solisten und großen Chor. Gemeinhin zählt dieses Werk deshalb auch neben seiner dritten und achten zu den größten Sinfonien der Musikgeschichte. Der Aufwand einer Aufführung ist jedes Mal enorm. Dafür schlägt es aber auch fast immer wie eine Bombe ein. Für die Gäste aus München ist das jedenfalls die Möglichkeit, sich heute als große Stars zu beweisen. Das gilt vor allem für die litauische Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla (37), die bereits im März hier in Köln mit Prokofjews zeitlosem „Romeo und Julia“ begeisterte – wenn auch nicht restlos.

Muenchner Philharmoniker © Judith Buss

Heute wird aber vom ersten Moment an geliefert. Der Einstieg in den ersten Satz versprüht Feuer; wuchtig werfen die Kontrabässe und Celli das Hauptthema in den Saal zum verlorenen Zittern der Geigen und Violen. Mahler benannte diesen Satz als „Totenfeier“ und verband ihn mit der Vorstellung, einen geliebten Toten im Sarg aufgebahrt vor Augen zu wissen. Und dieses verlorene Moment, die tiefe Trauer und Verzweiflung über den Verlust blitzt immer wieder auf. In religiös anmutenden Chorälen erinnert das – heute besonders prächtig strahlende – Blech darüber hinaus ans Versprechen vom Himmelreich, nur um anschließend in Triaden über Verderbnis, Hölle und das Jüngste Gericht zu kippen. Ein erster Satz so voller Gegensätze und Widersprüche, dass er heutzutage wohl schon als schwer vermittelbar gelten muss.

Und doch gelingt dem Orchester hier eine sehr transparente Leistung. Immer bäumt sich das Hauptthema auf, als würde es einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Mit Paukendonnern und feurigen Fanfarenstößen – gerade auch die Trompeten versprühen richtig Feuer – klopfen die Künstler wiederholt am Vorhof der Hölle an. Dennoch – das Moment von Verderbnis und Schrecken kauft der Rezensent dieser Interpretation nicht ganz ab. Dafür fehlen dann doch zeitweise die Schärfe und letzte Konsequenz in diesen Klangeruptionen. Besonders das Becken erscheint ihm zu leise – auch wenn im Verlauf des Abends der Verdacht aufkommt, dass dies vielleicht auch am weit seitlich gelegenen Sitzplatz des Rezensenten liegen könnte.

Fabelhaft gelingen stattdessen die von Sehnsucht getragenen Passagen über das Versprechen vom Himmelreich. Eine so pointierte und ergreifende Darbietung hat der Rezensent von diesen Stellen noch nie gehört. Ganz klar, hier beweist Mirga Gražinytė-Tyla sensibles Gespür für die Feinheit jedes Tons. Unter ihren fähigen Händen wird besonders das Englischhornsolo im ersten Satz zum Ausdruck vom Paradies. Da kann man zeitweise auch schon mal Tränen in den Augen haben!

Nach dieser ersten musikalischen Totenmesse ist der zweite Satz – ein Menuett – dramaturgisch ein Knick in der Konzeption der Sinfonie. Tatsächlich stellt er sich am heutigen Abend eher als Schwäche der Interpretation dar. Er fließt zwar gemächlich vor sich hin. Gänsehaut kommt aber erst gegen Ende auf. Möglicherweise liegt das daran, dass Gražinytė-Tyla hier ihre Musiker teilweise ohne Dirigiervorgabe gewähren lässt. Kann man so machen, heute aber offenbart das noch Luft nach oben.

Glücklicherweise kann der dritte Satz aus diesem Ruhemoment aufwecken. Mahler vertonte hier das Lied „des Antonius von Padua Fischpredigt“. Die dort geschilderte Handlung spitzte er musikalisch so zu, dass man schon von einem komischen Bruch – manche würden vielleicht sogar den Begriff „Ironie“ bemühen – sprechen kann. Lobend sollen hier vor allem die durchgehend starken Hörner erwähnt werden. Tatsächlich setzt sich vom Tummeln der Streicher und Holzbläser immer wieder das Blech in feierlicher Thematik ab – nur um im Nichts zu verebben. Wie ein Prediger, der in eine Menschenmenge hineinruft, von seinen Mitmenschen aber links liegen gelassen wird. Tatsächlich endet dieser Satz auch in einem Aufschrei von ungehörtem Ausmaß – ein Moment, bei dem es einem schon den Magen umdrehen kann. Nicht nur kompositorisch, sondern auch interpretatorisch heute ganz große Klasse!

Quelle: https://music.gsu.edu/profile/talise-trevigne

Die letzten beiden Sätze sind wiederum diejenigen, die diese Musik in ihren eigenen Olymp erhöhen. Nicht nur greift Mahler hier auf einmal auf das gesungene Wort zurück. Auch ertönen Klänge aus der Ferne: Zunächst als Choral zum wehklagenden Urlicht-Lied, dann als Signale der sich ankündigenden Apokalypse, die immer näher rückt, bis sie sich schließlich in einer wahnsinnigen Orchesterfuge hereinbricht. Hier schmettert und stößt es endlich wie es bereits im ersten Satz hätte losstürmen dürfen, das ist richtiges Gänsehautgefühl. Schön auch, dass Mirga Gražinytė-Tyla dieser Part in einem Tempo dirigiert, das wie ein echter Weltuntergangsmarsch mitreißt, anstatt wie eine Elefantenherde vor sich hinzutrotten. So kann es richtig ergreifen!

Der Gesang ist es wiederum, der das Ganze zum Höhepunkt lenkt. Von den beiden Solistinnen bietet Okka von der Damerau den Urlicht-Satz in würdevoll getragener Sehnsucht dar. Und im verklärenden Doppelgesang mit der herrlich klar singenden Talise Trevigne leiten sie in das vom Chor geprägt Erlösungs-Finale ein. Beiden Sängerinnen darf man eine feinfühlige und insgesamt gute Leistung attestieren, auch wenn sie an ihre Grenzen kommen. Denn leider ist ihre Positionierung auf der Empore hinter dem Orchester nicht ideal. Besonders zum Ende hin schaffen sie es nur knapp, nicht gegen das Orchester unterzugehen. Warum hier nicht entschieden wurde, sie vor das Orchester zu holen, dürfte wohl eine unbeantwortete Frage bleiben.

Quelle: https://www.kulturvision-aktuell.de/okka-von-der-damerau/

Und trotzdem erfüllt das Finale das Versprechen von himmlischer Erlösung. Denn als nach der vom Dies Irae geprägten Weltuntergangs-Fuge der Philharmonische Chor München erst ganz leise einsetzt und sich dann bis zum himmelerschütterndem Lobgesang steigert anstatt ins Jüngste Gericht mit „Heulen und Zähneklappern“ zu kippen, ist das ein bombastisches Erlebnis. Hier findet alles zusammen – prächtiger Gesang, ein von Höhepunkt zu Höhepunkt dröhnender Orchesterapparat, Pauken- und Tamtamdonnern mit Glockenschlägen und eine kraftvoll registrierte Orgel.

Es ist kein Wunder, dass der fast ausverkaufte Saal daraufhin aus dem Häuschen ist und das Publikum geschlossen in Minuten lange Stehende Ovationen einstimmt. Klar, das ein oder andere Schreckensmoment im ersten hätte noch schärfer sein dürfen, der zweite Satz hätte etwas mehr Kontur gut vertragen, auch das Schlagwerk hätte an manchen Stellen kräftiger einstimmen dürfen. Und am Ende hätte man überlegen können, ob man die Orgel ihren kurzen Einsatz noch etwas länger auskosten lassen sollte. Aber das sind in Summe Kleinigkeiten, wenn man bedenkt, welch fabelhafte Leistung hier durch die Bank weg gebracht wurde. Selbst wenn das heute also vielleicht noch nicht die Eins Plus mit Sternchen war, es war schon sehr nah dran!

Daniel Janz, 12. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Daniels vergessene Klassiker Nr 25: Dame Ethel Smyth – Konzert für Violine und Horn (1928) klassik-begeistert.de, 16. Juli 2023

Daniels vergessene Klassiker Nr 24: Luise Adolpha Le Beau – Klavierkonzert in d-Moll klassik-begeistert.de, 2. Juli 2023

Daniels vergessene Klassiker Nr 23: Augusta Holmès – Andromède (1901) klassik-begeistert.de, 18. Juni 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert