„Die Welt ist tief“: Lorenzo Viotti debütiert mit Mahlers Dritter bei den Berliner Philharmonikern

Gustav Mahler, Symphonie Nr.3 d-Moll, Elīna Garanča,  Philharmonie Berlin, 27. Februar 2020

Eine Enttäuschung bereitete der Sologesang Elīna Garančas im Misterioso. Zwar bleibt sie uns keinen einzigen Ton schuldig, aber die von dem Nietzsche-Text und Mahler geforderte Tiefe der Empfindung und des Ausdrucks ist ihre Sache nicht.

Philharmonie Berlin, 27. Februar 2020
Gustav Mahler  Symphonie Nr.3 d-Moll
Elīna Garanča Mezzosopran
Guillaume Jehl  Posthorn-Solo
Lorenzo Viotti  Dirigent (Foto©)

von Peter Sommeregger

Die  Konzertabsage von Yannick Nézet-Séguin bescherte Orchester und Publikum ein unerwartetes, aber im Grunde längst fälliges Debüt am Pult. Der junge, knapp dreißigjährige Lorenzo Viotti, Sproß einer urmusikalischen Familie, sprang kurzfristig ein, um Mahlers dritte Symphonie zu dirigieren. Offenbar so kurzfristig, dass sogar das gedruckte Programm mit einem Einlege-Zettel versehen werden musste.

Mahlers fast 100 Minuten dauerndes Werk legt die Latte für einen jungen Debütanten reichlich hoch. Im Kopfsatz meinte man auch noch eine gewisse Nervosität bei Viotti zu spüren, seine Bewegungen waren vielleicht ein wenig zu ausladend, die Generalpausen eine Spur zu lang, wodurch dieser ausladende erste Satz inhomogen wirkte.

Aber ab dem zweiten Satz schien Viottis Selbstbewusstsein gewachsen zu sein, seine Zeichengebung wirkte souveräner und der im Tempo di Menuetto stehende Satz wirkte erheblich besser strukturiert, was ebenso für das Scherzo gilt. Das Posthorn- Solo wurde von Guillaume Jehl markant und sicher ausgeführt. Mahler, der dieses Solo aus einem anderen Raum spielen lässt, verstärkt damit noch den traurigen, sehnsüchtigen Klang dieser Melodie, die wie eine ferne Erinnerung die Seele berührt.

Eine nicht unerwartete Enttäuschung bereitete der Sologesang Elīna Garančas im Misterioso. Zwar bleibt sie uns keinen einzigen Ton schuldig, aber die von dem Nietzsche-Text und Mahler geforderte Tiefe der Empfindung und des Ausdrucks ist ihre Sache nicht. Hier ist die Welt keineswegs tief, zudem scheint mir das Solo für die Sängerin zu tief notiert zu sein. Sehr viel mehr konnten die Damen des Rundfunkchores Berlin und die Knaben des Staats- und Domchores Berlin überzeugen, die mit ihren Soli einen jugendlich-frischen Ton einbrachten.

Philharmonie Berlin © Schirmer

Der langsame Final-Satz sah Viotti endgültig als souveränen Beherrscher der Aufführung. Willig ließ man sich von ihm in die breit ausladende Melodik Mahlers mitnehmen und hinwegtragen.

Als dramaturgischen Fehler muss man den Eintritt der Solistin Elīna Garanča und des Chors in den Saal nach dem ersten Satz wahrnehmen. Das kindisch bei jeder auch unpassenden Gelegenheit losapplaudierende Berliner Publikum stört damit die Pause zwischen den Sätzen erheblich. 30 Minuten mehr auf dem Podium, und das sitzend, sollten dem Chor zumutbar sein.

Elīna Garanča, Foto: © Paul Schirnhofer/DG

Eine Enttäuschung bereitete der Sologesang Elīna Garančas im Misterioso. Zwar bleibt sie uns keinen einzigen Ton schuldig, aber die von dem Nietzsche-Text und Mahler geforderte Tiefe der Empfindung und des Ausdrucks ist ihre Sache nicht. Hier ist die Welt keineswegs tief, zudem scheint mir das Solo für die Sängerin zu tief notiert zu sein. Garanca singt den Text so undeutlich und beiläufig, dass die spirituelle Wirkung des berühmten Gedichtes nicht zur Geltung kommt.

Am Ende sieht sich der ein wenig abgekämpft wirkende Viotti mit großem Zuspruch des Publikums belohnt. Gerne möchte man diesen Dirigenten bald wieder an dieser Stelle sehen und hören.

Peter Sommeregger, 28. Februar 2020 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

4 Gedanken zu „Gustav Mahler, Symphonie Nr.3 d-Moll, Elīna Garanča,
Philharmonie Berlin, 27. Februar 2020“

  1. Wunderbares Konzert, erlebt als Live Stream der Digital Concert Hall. Sehr vielversprechender junger Dirigent.

    Dr. Friedrich Straßer

  2. Dieses Konzert war nun bereits das insgesamt achte Mal, dass ich die Berlin Philharmoniker live erleben durfte (darunter waren vor allem, einschließlich der dritten jetzt, vier Mahler Symphonien), und ich muss sagen, dass dieses Konzert von allen mich am meisten beeindruckt hat. Vielleicht liegt es einfach auch daran, dass ich mich in letzter Zeit etwas mit der musikwissenschaftlichen Literatur zu den Mahler-Symphonien auseinandergesetzt habe, aber meiner Einschätzung nach hat die musikalische Leistung der Berliner Philharmoniker, von Lorenzo Viotti, den Chören, und ja, auch von Elīna Garanča, auf einem Niveau stattgefunden, auf dem nur sehr, sehr wenige Orchester mithalten können. Die Posthorn-Episode klang, als ob sich die Philharmonie plötzlich in ein ländliches Alpendorf (samt Frittatensuppe und Almdudler) verwandelt hatte, und der 5. Satz klang, als ob er in einer Kirche gespielt worden wäre (dies liegt sicherlich auch an der sehr guten Akustik der Berliner Philharmonie). Am allereindrucksvollsten waren aber die letzten Takte des letzten Satzes (ab Ziffer 32); so kraftvoll wie gerade die beiden Paukisten noch einmal, am Ende eines fast eineinhalbstündigen musikalischen Werks, hier musiziert haben, ist das, selbst unter den besten CD-Einspielungen und live-Aufführungen, nur sehr, sehr selten zu hören. Noch beeindruckender war dabei, dass obwohl pro Note tatsächlich vier Pauken (zwei je Pauker) anstatt zwei (wie Mahler es in der Partitur scheinbar impliziert hat) gespielt wurden, dies klanglich kein Widerspruch zu Mahlers Anweisung an dieser Stelle „Nicht mit roher Kraft“ (T. 317) dargestellt hat (interessant ist auch, dass Mahler, wie so oft, an dieser Stelle sehr viele verschiedene Dynamiken gleichzeitig erklingen lässt, in T. 317 spielen die hohen Holzbläser, die 8 Hörner und die Posaunen nur piano, die Pauken ein einfaches forte, die Streicher und die Trompeten fortissimo, und die Fagotte (einschließlich des Kontrafagotts) sind sogar im dreifachem forte; Mahler hatte also wirklich eine äußerst präzise Vorstellung der Klangfarbe, die er an dieser Stelle wollte). Die Kraft in der Musik war, mehr als in allen bisher vorhandenen Aufnahmen dieser Symphonie, da, trotzdem wurde diese Stelle auf keinen Fall mit roher Kraft gespielt.
    Zu Elīna Garanča: ja, als Santuzza in der Wiener Staatsoper letzten März hat sie (meiner Meinung nach) noch besser gesungen, aber dies ändert trotzdem nichts daran, dass ihre musikalische Leistung jetzt mit den Berliner Philharmonikern wieder einmal bewiesen hat, dass sie eine der besten Sängerinnen der Gegenwart ist.

    Johannes K. F.

  3. Ich besuchte das Konzert am Freitag, dem 28. Februar 2020, und kann die Konzertkritik sowie die in den Kommentaren abgegebenen Erfahrungsberichte nur eingeschränkt bestätigen. Zunächst einmal (in dieser Hinsicht stimme ich mit der Rezension überein) fand auch ich die Qualität der Aufführung im ersten Satz sehr durchwachsen; ich hatte den Eindruck, dass es erhebliche Probleme in der Abstimmung zwischen Dirigenten und Orchester gab – ja, dass Viotti die Kontrolle in bestimmten hochkomplexen Passagen merklich entglitt. Meines Erachtens wäre speziell in den ersten beiden Sätzen deutlich mehr drin gewesen! Bereits nach den ersten paar Takten sehnte ich mich förmlich in meine persönliche Referenzeinspielung zurück (Wiener Philharmoniker / Claudio Abbado: DG, 1982); die Aufführung von diesem Abend kam auch nicht ansatzweise an meine weiteren Live-Erlebnisse dieser Sinfonie heran – beispielsweise der großartige Konzertabend im September 2018 in Leipzig mit den Boston Symphony Orchestra unter Andris Nelsons; gar kein Vergleich! Zwar blitzte die große individuelle Klasse der wunderbaren Solisten der Berliner Philharmoniker auch an diesem Abend immer wieder auf, jedoch schien einfach die ordnende Hand zu fehlen. Schade!

    Anders dann der weitere Verlauf des Konzerts – auch ich nahm eine deutliche Verbesserung in der Abstimmung zwischen Maestro und Orchester wahr. Die sehr schöne, absolut untadelige Darbietung etwa des Finalsatzes macht in der Tat Appetit auf mehr! Abweichend von der Einschätzung des Rezensenten (und in Übereinstimmung mit meiner konzerterfahrenen Begleiterin) war ich indes auch von der Leistung der Gesangssolistin Elīna Garanča überaus angetan, und auch die Chöre fand ich sehr überzeugend.

    Vermutlich kommen die abweichenden Einschätzungen der unterschiedlichen Rezensenten (auch) dadurch zustande, dass es sich um drei unterschiedliche Konzerte (Donnerstag, Freitag, Samstag) handelte! Mir schien dies alles mit ziemlich heißer Nadel gestrickt, und es gab definitiv noch deutlich Luft nach oben; besser als eine sehr kurzfristige Konzertabsage war es indes allemal. Interessant wäre es natürlich, in Erfahrung zu bringen, für wie viele Komplettdurchgänge im Rahmen der Proben die Zeit noch reichte. Für seinen großen Mut, hier ganz kurzfristig einzuspringen, kann man Lorenzo Viotti jedenfalls nur beglückwünschen. Bis zur nächsten Aufführung von Mahler 3 demnächst in Baden-Baden werden die Unstimmigkeiten sicherlich abgestellt sein.

    Roland Stuckardt

  4. Als Mitglied des Staats- und Domchores Berlin sehe ich mich nachträglich genötigt, einen Kommentar zu ihrem Artikel abzugeben. Ich beziehe mich hierbei auf Ihren Vorwurf, der Eintritt des Chores nach dem ersten Satz sei ein „dramaturgischer Fehler“ gewesen. Aus dieser unpassenden Aussage geht hervor, dass Sie wenig Erfahrung in der Arbeit mit Kindern haben. Natürlich ist es einem Chor zumutbar, dreißig Minuten zuzuhören, vorausgesetzt, es handelt sich dabei um erwachsene und entsprechend geduldigere Sänger. Die zweifelsohne professionellen Knaben des Staats- und Domchores befanden sich zum Zeitpunkt des Auftrittes im Alter von etwa zehn bis dreizehn Jahren. Dieses junge Alter garantiert noch nicht für die Geduld eines Erwachsenen. Auch ist die seelische Belastung der jungen Sänger durch die vielen großen Konzerte nicht gerade gering. Es wäre sowohl pädagogisch als auch gesundheitlich nicht vertretbar gewesen, die Sänger des Staats- und Domchores 100 Minuten auf der Bühne sitzen zu lassen. Erlauben Sie noch ein paar Sätze, um ihr Argument des „dramaturgischen Fehlers“ zu entkräften. Stellen Sie sich die Frage, inwieweit an die 50 ungeduldige Jungen auf der großen Bühne der Philharmonie der Dramaturgie des Auftritts zuträglich gewesen wären. Die Antwort darauf lasse ich offen.

    Grüße,

    Alexander Biernoth

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