Christian Thielemann zeigt Teodor Currentzis, wo der Hammer hängt

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 3 in d-moll, Currentzis versus Thielemann  Wiener Konzerthaus und Musikverein Wien

Foto: Gustav Mahler, 1909

Gustav Mahler: Symphonie Nr. 3 in d-moll

Konzert am 11. Juni 2023 im Wiener Konzerthaus:

Wiebke Lehmkuhl, Alt
Wiener Sängerknaben, Damen der Wiener Singakademie

Utopia
Dirigent: Teodor Currentzis


Konzert am 18. Juni 2023 im Musikverein Wien:

Christa Mayer, Alt

Wiener Sängerknaben, Damen des Singvereins der Gesellschaft der Musikfreunde in Wein

Sächsische Staatskapelle Dresden
Dirigent: Christian Thielemann

von Herbert Hiess

Eigentlich kann einem Rezensenten nichts Besseres passieren, dass so eine Jahrhundertkonstellation eintritt, wo ein relativ selten gespielter Koloss wie Gustav Mahlers Symphonie Nr. 3 in d-moll im Abstand von genau einer Woche in 2 denkwürdigen Aufführungen präsentiert wird.

Und es zeigt auch, wie breit das Interpretationsspektrum ist, dass ein Werk stilistisch recht unterschiedlich zu hören ist und trotzdem solche tiefgehenden Eindrücke hinterlässt.

Dabei hätten die Fakten gar nicht unterschiedlicher sein können. Auf der einen Seite eines der traditionsreichsten Orchester Deutschlands, das 1548 gegründet wurde. Und zum 475-jährigen (!!) Jubiläum hatte man das Glück, einer so denkwürdigen Aufführung mit eben dieser Staatskapelle Dresden beiwohnen zu können.

Auf der anderen Seite das Utopia Orchester, das erst 2022 gegründet wurde. Mit seinem Chef Teodor Currentzis hat dieses Orchester das Glück, einen der offenbar besten Orchestererzieher zur Hand zu haben.

Einfach erstaunlich, was hier auf die Beine gestellt wurde. Currentzis hat in relativ kurzer Zeit ein Ensemble kreiert, das locker in der Orchesterszene der Weltklasseorchester mithalten kann. Virtuos in allen Instrumentengruppen war man schon allein von der Qualität der Musiker begeistert.

Teodor Currentzis und Utopia © Markus Aubrecht

Currentzis‘ Interpretation ist fast diametral zu Christian Thielemann. Bei ihm sind die Akzente und Konturen viel schärfer gezeichnet; das hört man vor allem beim Schlagwerk und bei den Blechbläsern. Trotzdem wird hier nie ein Bogen verloren; ganz großartig, wie das Orchester den monströsen ersten Satz meistert.

Auch die anderen fünf Sätze waren im Wiener Konzerthaus nicht minder begeisternd; Currentzis verliert nie den Überblick und mit seiner präzisen Schlagtechnik vermittelte er immer Sicherheit für die Musiker. Kinder- und Damenchor waren exzellent; auch Wiebke Lehmkuhl beeindruckte mit ihrem sonoren Alt.

Wiebke Lehmkuhl © Symphonischer Chor Hamburg

Chapeau auch vor den einzelnen Instrumentengruppen und vor allem bei den Orchestersolisten; die großartige Konzertmeisterin von Utopia brillierte mit wunderbaren Soli und stellvertretend für alle das phantastische Posthorn von außen.

Und das finale Adagio beeindruckte und berührte mit breitem Tempo und phantastischen Legatobögen; der triumphale Applaus war dann mehr als gerechtfertigt.

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Ganz anders Christian Thielemann; bei ihm klingt alles viel weicher – scharfe Akzente wird man insgesamt vergeblich suchen. Trotzdem merkte man, wie er detailverliebt gewisse Phrasen herausarbeitete und mit kleinen Temporückungen richtig begeisterte – hier war vor allem der zweite Satz (Menuetto) ein Musterbeispiel. Da fühlte man sich gleich in ein Volksfest in Oberösterreich reinversetzt.

Christian Thielemann © SF / Marco Borrelli

Diese Symphonie mit dem Beinamen „Ein Sommermorgentraum“ ist eine Naturerzählung per se und lässt die Inspiration des Attersees im oberösterreichischen Salzkammergut spüren. Und nicht nur das – auch die Eindrücke, die Gustav Mahler vom ländlichen Leben mitnehmen konnte. Seien es Blasmusiken, wilde Tänze, sanfte Walzer. All dies hört man in dieser großartigen schon fast ausufernden Symphonie.

Wie bei Utopia gibt es auch bei den Dresdnern hervorragende Orchestersolisten in allen Bereichen; stellvertretend für alle das brillante Posthorn im dritten Satz.

Und mit dem finalen Adagio, das schon bei Currentzis im Wiener Konzerthaus so fulminant klang, schrieb Thielemann Aufführungsgeschichte im Musikverein.

Nach dem Altsolo und dem fünften Satz mit Knaben- und Damenchor, spielte er gleich „Attacca“ (Anm.: Wenn nach einem Satz der folgende Satz unmittelbar beginnt) das Finale, das man so schnell nicht vergessen wird. Thielemann forderte schon mit Ganzkörpereinsatz das leiseste piano, das man sich nur vorstellen kann; Seitenstimmen (z.B. Bratschen) bekamen ihr Eigenleben. Jede Phrase war auf das feinste rausgearbeitet.

Ein Einsatz für die Tränendrüsen war die Sektion mit Flöte, Klarinette und Oboe, die plötzlich aus dem Nichts erklang und letztlich am Schluss der Choral der Trompeten und Posaunen, der bei Thielemann so klang, wie er klingen sollte. Bei den meisten Dirigenten/Orchestern wird das „non legato“ gespielt; bei Thielmann und den Dresdnern war das schon „legatissimo“ – und wieder ein Einsatz für die Taschentücher. Bis hin zur fulminanten Coda, wo der Schlussakkord schon fast körperlich schmerzhaft als Fermate gespielt wurde.

Thielemann machte allein aus diesem Satz das, was man abgedroschen als „Sternstunde“ bezeichnet und was man sicher gedanklich niemals ad acta legen wird. Und es lässt Unverständnis über den Unverstand der Intendanz der Dresdner aufkommen, den Vertrag eines solchen Mannes wie Thielemann nicht zu verlängern. Es spricht für den Maestro, dass er aus Loyalität trotzdem alle Verpflichtungen erfüllt, obwohl man ihn so rüde behandelt hatte. Es gibt genug Beispiele, wo Chefdirigenten dann von einem Tag auf den anderen bei ihren Orchestern die Arbeit niederlegten.

Dieses Konzert hat bewiesen, dass Thielemann in der Dirigenten-Szene heute (leider!) singulär ist. Die Fußstapfen, die der Maestro hinterlässt, sind gar nicht auszufüllen und wer auch immer ihm nachfolgt,  wird beinhart an ihm gemessen werden. Man darf gespannt sein!

Herbert Hiess, 19. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Gustav Mahler, 3. Symphonie Sächsische Staatskapelle Dresden, Christian Thielemann

Orchester Utopia Teodor Currentzis, Dirigent Philharmonie Berlin, 11. Oktober 2022

Interview mit Christian Thielemann von Kirsten Liese   klassik-begeistert.de, 4. Mai 2023

2 Gedanken zu „Gustav Mahler, Symphonie Nr. 3 in d-moll, Currentzis versus Thielemann
Wiener Konzerthaus und Musikverein Wien“

  1. Freut mich, dass Sie die Staatskapelle mit Thielemann im Musikverein erleben durften. Ich hatte das Glück, sie vor Abreise zur Tournee in der Semperoper zu erleben – kann mich Ihrer Rezension nur anschließen.

    Kurze Bemerkung noch zu Thielemanns Nicht-Vertragsverlängerung: Die Intendanz hatte damit überhaupt nichts zu tun. Es war die zuständige Ministerin der Staatsregierung, die unbedingt den (politisch) unbequemen Dirigenten loswerden wollte.

    Ingo Brenner

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