Philippe Sly © Wiener Staatsoper / Sofia Vargaiová
Dem auch in diesen Seiten öfters kritisierten Direktor Bogdan Roščić ist mit dieser Produktion, wie auch schon mit Ligetis “Le Grand Macabre”, ein faszinierender, sehens- und hörenswerter Beitrag zum Spielplan der Wiener Staatsoper geglückt. Ob er sich im Repertoire halten wird, bleibt abzuwarten. Das Werk ist sicher nicht leicht verständlich, regt aber unbedingt zum Nachdenken über die Rätsel unserer Existenz an. Es waren wohl einige im Publikum überfordert; die Mehrzahl dankte den Mitwirkenden freundlich, wenn auch nicht enthusiastisch.
György Kurtág
“Fin de partie”
Text: Samuel Beckett
Nagg: Charles Workman
Nell: Hilary Summers
Hamm: Philippe Sly
Clov: Georg Nigl
Orchester der Wiener Staatsoper
Musikalische Leitung: Simone Young
Inszenierung, Bühne und Kostüme: Herbert Fritsch
Licht: Friedrich Rom
Wiener Staatsoper, 19. Oktober 2024
von Dr. Rudi Frühwirth
György Kurtágs einzige Oper verführt uns dazu, Antworten auf unlösbare Rätsel zu suchen. Wann ist ein Spiel zu Ende, in dem es keine klaren Regeln gibt? Wenn in jeder Sekunde ein Tropfen Zeit auf unsere Köpfe fällt, wann ist unsere Zeit abgelaufen? Wenn ich Hirsekorn auf Hirsekorn schichte, wann ist daraus ein Haufen geworden?
Indem wir der Verführung nachgeben, werden wir Mitspieler im absurden Spiel, werden wir in den Strudel der vergeblichen Suche nach Antworten hineingezogen. Das eben ist die List des Autors und des Komponisten, dass sie uns zu Komplizen machen; Komplizen, die im Bewusstsein ihrer Ratlosigkeit die Absurdität des Bühnengeschehens auf den Zuschauerraum, ja auf ihre ganze Welt ausdehnen.
Die Musik, die Kurtág zu Becketts verstörendem Drama komponiert hat, entwickelt nur selten ein merkbares Eigenleben. Sie beschränkt sich bewusst darauf, sich dem Text anzuschmiegen, ihn bis in die kleinsten Details auszuleuchten und seine Wirkung zu verstärken. Ich will aber nicht leugnen, dass durch die enge Verbindung von musikalischer und sprachlicher Phrase und die dadurch bedingten zahlreichen Pausen die Vertonung episodisch, ja kurzatmig wirkt. Auf jeden Fall fordert sie vom Zuhörer höchste Konzentration.
Trotz eines riesigen Apparats mit mehr als zwanzig Schlaginstrumenten ist der Orchesterklang stets äußerst durchsichtig. Simone Young an der Spitze des Staatsopernorchesters sorgte für raffinierte, zarte Töne aus dem Graben, die die Textverständlichkeit der vier singenden Personen niemals beeinträchtigten.
Die ideale Symbiose von Text und Musik wird verstärkt durch die bewundernswerte Regiearbeit von Herbert Fritsch. Sein Mittel ist die Gestik und die Mimik, die jeden Satz, jede Phrase der Personen begleitet und interpretiert. Durch eine bis an die Karikatur reichende Stilisierung der handelnden Personen entsteht so eine abgezirkelte Choreographie der Stasis – schließlich sind drei von ihnen fast immobil: Hamm im Rollstuhl, seine Eltern Nell und Nagg in den berühmt-berüchtigten Mülltonnen. Nur Clov, der Clown in der Einstein-Maske, kann sich frei bewegen.
Die größte Hochachtung gebührt den Darstellern schon allein für die ungeheure Gedächtnisleistung, die sie für die Erarbeitung der Rolle aufzubringen hatten. Allen voran ist hier der kanadische Bass-Bariton Philippe Sly in der Rolle des Hamm (= Hammer?) zu nennen. Stimmlich wie darstellerisch ist er wahrlich bewundernswert. Da sitzt jeder Ton und jede Geste, da verschmelzen Gesang und Schauspiel zu einer eindrucksvollen, das Stück beherrschenden tragischen Figur.
Den Kontrast zum gelähmten und blinden Hamm bildet sein Sklave Clov (= clou?), der stets davon träumt, Hamms unerklärlicher Macht zu entrinnen. Am Ende der Oper scheint er den Mut zu gewinnen, sich aus einer unerträglich gewordenen Situation zu befreien; ob er es tatsächlich schafft, bleibt aber offen. Georg Nigl kann in dieser Rolle sein beträchtliches komödiantisches Talent voll ausspielen und stellte mich auch gesanglich voll zufrieden.
Hamms Eltern, Mutter Nell (= nail?) und Vater Nagg (= Nagel?) müssen ihr erbärmliches Leben in Mülltonnen fristen und sind auf Gedeih und Verderb den Launen ihres Sohnes ausgeliefert. Fritsch zeigt sie als grausame Karikaturen alter, hilfloser Menschen, als Symbole des unaufhaltsamen Untergangs, dem wir alle entgegeneilen. Fast bewegungsunfähig, sind sie allein auf ihren Gesang und ihre Mimik angewiesen, um ihre Emotionen zu zeigen. Der amerikanische Tenor Charles Workman als Nagg ist in beiden Aspekten hervorragend. Seine helle Stimme, auch kontrolliert schriller Ausbrüche fähig, seine ausdrucksvolle Mimik, unterstützt von einer erschreckend realistischen Maske, ließen mich immer wieder erschauern – soll das Spiel der menschlichen Existenz wirklich so elendiglich enden?
Hamms Mutter Nell hängt meist ihren Erinnerungen an eine schönere Vergangenheit nach und trägt ihr bedauernswertes Schicksal würdevoller als Nagg. Die walisische Altistin Hilary Summers hat die Rolle schon in der Uraufführung des Werks in der Mailänder Scala gesungen. Sie klang im Prolog erstaunlich tonlos; ich nehme an, dass das in der Partitur so vorgeschrieben ist. Auch in den folgenden Szenen war sie stimmlich eher zurückhaltend, darstellerisch aber ebenso überzeugend wie Workman.
Der Regisseur Herbert Fritsch hat auch das Bühnenbild entworfen. Mit seinen verzerrten Proportionen, der schwarz-weißen farblichen Gestaltung und den Schattenspielen erinnert es visuell an expressionistische Stummfilme, zum Beispiel an “Das Cabinet des Dr. Caligari”. Der Raum hätte allerdings noch etwas beengender, klaustrophobischer ausfallen können. Die bewegliche Decke hebt sich ab und zu und deutet damit immer wieder eine Möglichkeit zum Entkommen aus der privaten Hölle der vier Personen an; dann senkt sie sich wieder und lässt das Spiel sich gnadenlos weiterdrehen. Die bunten Kostüme bilden einen belebenden Gegensatz zum nüchternen Bühnenbild.
Dem auch in diesen Seiten öfters kritisierten Direktor Bogdan Roščić ist mit dieser Produktion, wie auch schon mit Ligetis “Le Grand Macabre”, ein faszinierender, sehens- und hörenswerter Beitrag zum Spielplan der Staatsoper geglückt. Ob er sich im Repertoire halten wird, bleibt abzuwarten. Das Werk ist sicher nicht leicht verständlich, regt aber unbedingt zum Nachdenken über die Rätsel der Existenz an. Es waren wohl einige im Publikum überfordert; die Mehrzahl dankte den Mitwirkenden freundlich, wenn auch nicht enthusiastisch.
Dr. Rudi Frühwirth, 20. Oktober 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
György Ligeti, “Le Grand Macabre” Wiener Staatsoper, 17. November 2023
Giuseppe Verdi, Don Carlo Wiener Staatsoper, 6. Oktober 2024
Giuseppe Verdi, La Traviata Wiener Staatsoper, 13. September 2024