Augen zu und durch: Die Sensation der Wiener „Traviata" steht im Graben

Giuseppe Verdi, La Traviata   Wiener Staatsoper, 13. September 2024

La Traviata © Wiener Staatsoper

Viel zu wenig Applaus für den Dirigenten. Shout-Out für Domingo Hindoyan, der Verdis „La Traviata“ an der Wiener Staatsoper in ein neues Licht rückt. Angesteckt von seiner verklärten Lesart, findet Lisette Oropesa zu ungewohnter Leichtigkeit. Juan Diego Flórez bettet er auf Zimmerlautstärke. Nur Ludovic Tézier verirrt sich in dieser mysteriösen Atmosphäre, die an Wagners Gralswelt erinnert.

Giuseppe Verdi, La Traviata

Wiener Staatsoper, 13. September 2024

von Jürgen Pathy

„Ich dachte, du magst die Oropesa nicht!“ Meine Aversion hat sich nach dieser Vorstellung fast in Luft aufgelöst. Nicht zur Gänze, weil Lisette Oropesa noch immer regelmäßig zurückfällt. In Phrasen, die nur mit einem extremen Kraftakt über ihre Lippen fließen. Doch dieser Violetta gelingen auch viele leichte Momente, klare Piani, die sie mit einer Innigkeit hinhaucht, vor der man dahinschmelzen könnte. Ohne das ständige Zittern und Beben, das ihrer Stimme sonst oft beiwohnt.

Kein Bock mehr auf Simon Stones „Traviata“

Davor muss man bei Juan Diego Flórez keine Angst haben. Der Tenorissimo, mittlerweile 51, hatte nie eine große, kräftige Stimme. Er ist eine Größe, keine Frage, verzaubert durch grazil geschwungene Phrasen, die man in dieser Qualität nur alle heiligen Zeiten erleben darf. Sein Alfredo überzeugt durch Klarheit, Schönheit und Sensibilität, statt männlicher Potenz und Aufschneidertum. Dass man das auch in den hinteren Reihen hören darf, liegt an Domingo Hindoyan.

Dirigent Domingo Hindoyan © Victor Santiago

Der Südamerikaner, Ehemann von Sonya Yoncheva, ist in Wien ein unbeschriebenes Blatt. Eine „Turandot“-Serie bislang, das war’s. Sein Dirigat rückt Simon Stones Inszenierung zum Glück in den Hintergrund. Ständig dreht sich etwas, überdimensionale Bildschirme, von denen Nachrichten flimmern. WhatsApp-Chats, kopulierende Neonröhren, ein ästhetisches Desaster in einer Tour. Augen zu und durch, lautet die Devise in „Paristanbul“, einem Würstelstand, von dem Violetta auf die Alm zieht. Digital Detox – gerne, aber nicht als Sujet, nicht auf der Opernbühne. Die Realität kann ruhig vor der Tür bleiben.

Wiener Staatsopernorchester: die zweite Garnitur in Hochform!

Zum Glück ist Verdis Musik stärker, obwohl Domingo Hindoyan auf die sakrale Kraft der Gralswelt setzt. Zackig, klassischer Verdi-Wums, den spielt’s am Pult der Wiener Staatsoper dieses Mal nicht. Nur zum Ende schunkelt man in lockerer Verdi-Manier und denkt sich dennoch: Halleluja, ist das ein geiles Dirigat. Wagners „Parsifal“, viel „Lohengrin“ – bereits während der Ouvertüre –, dazu gesellt sich Siegfrieds Trauermarsch. All das lässt der venezolanische Dirigent in Verdis „La Traviata“ hervorblitzen und animiert das Staatsopernorchester zur Höchstform.

Acht Damen am Pult der zweiten Geigen. Mehr sogar als letzte Woche, da hatte man sieben blutjunge Ladies bei „Roméo und Juliette“ gezählt. Substitute sicherlich, die aber alle Stammkräfte an die Wand spielen. Dritte Vorstellung der Serie halt, da benötigt es keine Orchesterprobe mehr. Da läuft der Apparat wie geschmiert.

La Traviata © Wiener Staatsoper

Nur Ludovic Tézier kommt mit dieser mysteriösen Welt nicht ganz zu recht. Ein dominanter Vater Germont, perfekter Kontrast der Stimmen, ein Wort mit Macht und Nachdruck, zumindest im Duett mit Violetta. Beim „Di Provenza il mar“, hapert’s irgendwo. Da sucht man die Geschmeidigkeit vergebens, den Fluss im Rhythmus, das Sentimentale.

Schmälert nichts an der Gesamtleistung, die viel Neues offenlegt. Wagner statt Verdi, Sakrales statt Volkstümliches, gefühlter 4/4 statt 3/4 Takt – hat was, toll, faszinierend, innovativ. Aha-Momente an vielen Ecken. Stellt sich nur die Frage: Will man das? Für eine Vorstellung: definitiv! Ob dauerhaft – ich weiß es nicht.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 15. September 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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