„Wer mag der Herr wohl von diesem Häuschen sein?“

Engelbert Humperdinck, Hänsel und Gretel  Theater Lübeck, 14. Dezember 2024

Archiv Foto © TL /Olaf Malzahn

Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ bringt erneut Weihnachtszauber nach Lübeck

Hänsel und Gretel
Märchenoper von Engelbert Humperdinck

Jan-Michael Krüger, Dirigent
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Herbert Adler, Inszenierung

Theater Lübeck, 14. Dezember 2024

von Dr. Andreas Ströbl

Es ist ein wunderbarer Weihnachtstraum, der wohlig meinen Schlummer füllt: Ich sitze im sommerlich-warmen Bayreuther Festspielhaus, gleich hebt sich der Vorhang. Merkwürdig, das Polster auf meinem Klappstuhl ist so weich. Haben die das endlich mal neu aufpolstern lassen? Die Fanfaren auf dem Balkon des Königsbaus habe ich noch im Ohr – was war das gleich?
Hörte sich an wie Wagner, war es aber nicht. Das Thema klang ein bisschen wie aus dem „Ring“, aber irgendwie adaptiert. Na, egal, der Vorhang bewegt sich und macht den Blick auf die Bühne frei. Ah, jetzt weiß ich, was gespielt wird: Die ärmliche Hütte im Wald ist natürlich die des hässlichen Hunding und gleich kommt Siegmund und heischt Rast am Herd des harmvollen Feindes. Aber nein, da sind ja zwei Kinder – ach, das ist wieder so eine moderne Inszenierung, wo Sieglinde und Siegmund in einer Rückblende noch ganz klein dargestellt werden und verschiedene Zeitebenen vermengt werden – aber warum singt Sieglinde denn „Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh“?

Das ist ja gar nicht die „Walküre“, sondern Humperdincks „Hänsel und Gretel“! Und jetzt sehe ich erst, wer neben mir sitzt, auf dem Platz meiner Frau: Es ist Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die mich angrinst und flüstert: „Habe ich’s nicht gesagt? Der Kratzer macht sich nicht nochmal über mich lustig!“ Klar, im aktuellen „Tannhäuser“ gab es ja das Plakat mit der Aufschrift „Dr. Claudias Kasperletheater – Hänsel & Gretel“. Frau Dr. Roth im knallbunten Kleid nähert sich mir bedrohlich und raunt mir zu: „Es gibt dieses Jahr auf dem Hügel nur Humperdinck und noch ein paar 70er-Jahre-Kinderopern mit frech-rebellischem Inhalt, für Menschen ab 6! Die Herrin des Häuschens auf dem Hügel bin nämlich jetzt ich!“

Buntes Kleid und Blond-Helmfrisur kommen immer näher, mit einem Schrei wache ich auf und – es ist alles in Ordnung! Ich sehe Humperdincks wundervolle Märchenoper im Theater Lübeck in der liebenswert altmodischen Inszenierung von Herbert Adler, Chorleiter Jan-Michael Krüger schwingt den Taktstock und das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck intoniert das zauberhafte Vorspiel. Da war wohl ein Glühwein auf dem Lübecker Weihnachtsmarkt der sprichwörtliche zuviel…

Alle Jahre wieder und so auch 2024 lässt die Produktion Kinderaugen leuchten und die der Erwachsenen tränenfeucht werden, spätestens beim „Abendsegen“ mit den Engelein, die wie auf einer weihnachtlichen Jakobsleiter herabsteigen, um den Kindern den himmlischen Schutz zu bieten, den sich die Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel im Publikum des Jugendstiltheaters angesichts einer mehr als prekären Weltlage für ihre besorgten Seelen wünschen. Aber für diese zwei Stunden darf eben all das Tosende, Brüllende, Waffenrasselnde der Welt mal draußen bleiben und das Böse manifestiert sich nicht in den Tyrannen der Welt, sondern in Gestalt der ollen Knusperhexe, die einfach zum Riesenlebkuchen verbacken wird. Wenn’s denn so einfach wäre – aber nun lassen sich die Großen und Kleinen einfach entrücken und diejenigen, die diese romantische Inszenierung mit wundervoll märchenhafter Bühne und entsprechenden Kostümen von Thomas Döll schon kennen, sind gespannt auf die teils neue Besetzung und das Dirigat von Jan-Michael Krüger.

Archiv Foto © TL/Olaf Malzahn

Der marschiert mit flottem Tempo durch den Zauberwald, was aber der Musik guttut; das Orchester enthebt sich unter Krügers Leitung der Versuchung, den ganz schweren Märchenwälzer mit dickledernem Einband aufzuschlagen. Und so dringen trotz des angezogenen Schritts all die Finessen der Instrumentierung klar und differenziert heraus – und ja, jedes Mal, wenn man das oft gehörte Stück erneut erlebt, fällt einem ein weiteres Wagner’sches Waldweben, Waberlohen und Tumb-Riesen-Talpen auf.

Extrachor des Theater Lübeck, Kinder- und Jugendchor Vocalino des Theaters Lübeck und der Musik- und Kunstschule unter Gudrun Schröder singen auch dieses Jahr ganz bezaubernd und wenn die 14 Engelein um die beiden schlafenden Kinder stehen und segnend ihre Hände heben, dann kullern die Tränen über die Wangen der Erwachsenen und auch die zappeligsten ADHS-Kinder sind einen Moment lang gebannt von der himmlischen Schönheit von Musik und Inszenierung.

Diese Oper ist ja der klassische Einstieg für die Kleinen, um die Welt des Gesamtkunstwerks zu betreten, aber für Dreijährige ist das doch deutlich zu früh und so werden immer mal wieder quengelige Vor-Kindergarten-Kinder aus dem Saal getragen. Manche ältere können keine halbe Minute stillsitzen und man fragt sich, ob die heimlich irgendwas genommen haben.

Sei’s drum – die Solisten lassen sich durch die Unruhe nicht aus dem Takt bringen; als Geschwisterpaar sind dieses Jahr Natalia Willot (Gretel) und Frederike Schulten (Hänsel) zu hören; Letztere gab den frechen Buben auch schon im Vorjahr und überzeugt als alberner wie auch trotziger Hänsel. Beide spielen und singen wunderbar natürlich und frisch, gerade Natalia Willots Gretel ist von mädchenhafter Anmut.

Schlußapplaus Photo Regina Ströbl

Julia Grote ist eine strenge Mutter, die schnell die Fassung verliert, aber ihre Verzweiflung ob der prekären Lage der Familie gibt sie absolut glaubhaft wieder. Jacob Scharfman ist diesmal der Vater und mit seinem virilen Bariton changiert er zwischen angeschickert-sorglos und aufrichtig verunsichert, was das Schicksal seiner Kinder angeht.

Elizaveta Rumiantseva wirft auch dieses Mal als Sand- und Taumännchen den Glitzerstaub in die Luft und auf die Augen der müden Verirrten, wiederum mit spielerischer Leichtigkeit und Charme.

Trotz oder gerade wegen der fiesen Verschlagenheit räumt der als Knusperhexe schon bewährte Wolfgang Schwaninger auch diesmal ab – für den Hexenritt und den Stoß in den Ofen gibt es gleichermaßen Szenenapplaus. Da der grausige (und nach der eigenen Logik der Geschichte verdiente) Feuertod der Kannibalin als Transformation in den Riesen-Lebkuchen geschönt wird, ist das auch für sensible Kinderseelen zu verkraften. „Merkt des Himmels Strafgericht: Böse Werke dauern nicht.“ Das ist hier binnen-juristisch unstrittig klar und wird dann auch entsprechend umgesetzt.

Und wiederum erleben die in starre Lebkuchen-Figuren verzauberten vielen Kinder durch das Geschwisterpaar eine zweite Geburt ins fröhliche Leben, es wird getanzt, gesungen und gejubelt. Im Lübecker Theater gibt es entfesselten Beifall mit stehenden Ovationen. Jetzt kann Weihnachten kommen!

Dr. Andreas Ströbl, 15. Dezember 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Hänsel und Gretel, Märchenoper von Engelbert Humperdinck Theater Lübeck, 9. Dezember 2023

Hänsel und Gretel, Märchenoper von Engelbert Humperdinck Theater Lübeck, 22. Dezember 2022

Engelbert Humperdinck, Hänsel und Gretel, Staatsoper Hamburg, 12. Dezember 2021

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