Was für ein erhabenes Konzert.
Was für ein wunderbarer Chor.
Welch unique Musikalität aller Beteiligten.
Was für eine tolle Gemeinschaft fürs Leben –
viele Spatzen hatten nach dem Schlusston Tränen in den Augen,
jede umarmte ihre Nachbarin.
Ich wäre auch gern ein Spatz gewesen.
„Kommt mit in unser Land der Lieder“
Gedenkkonzert für Jürgen Luhn (23. November 1939 – 17. November 2022), Gründer und Leiter der Hamburger Alsterspatzen von 1975 bis 2019
St. Petri Hamburg (Hauptkirche), 25. Februar 2023
von Andreas Schmidt
Stellen Sie sich bitte vor, Sie sitzen in einer der schönsten protestantischen Kirchen Deutschlands, mitten in der Hamburger Innenstadt, an der Mönckebergstraße… ein Chor steht bereit mit mehr als hundert Frauen, das erste Lied fängt an, und die Stimmen dieser Frauen werfen Sie zurück in die Kirchenbänke, so rein, so klar, so unisono und voller jugendlicher Strahlkraft.
Als das Lied „Komm mit mir ins Land der Lieder“ ertönt, erfüllt viele Besucher in der bis auf den letzten Platz gefüllten Hamburger Hauptkirche ein wohliges Gänsehautgefühl. Mich auch.
Einige Sängerinnen und Zuhörer sind zu Tränen gerührt.
Die Sängerinnen – später kommen auch noch Männer auf das Podest – sind aber nicht mehr Kinder oder Teens, sie sind erwachsen, 20 bis 60 Jahre alt; viele gehen Berufen im künstlerischen Bereich nach – aber sind auch im IT-Bereich tätig oder im Social-Media-Bereich in einem Landkreis in Brandenburg.
Und Sie gaben eine umwerfendes, packendes, emotionelles und feinfühliges Konzert an diesem Abend in der Freien und Hansestadt Hamburg, draußen tanzten die Schneeflocken.
En bref: 120 ehemalige Sängerinnen und Sänger der Hamburger Alsterspatzen, dem Kinderchor an der Hamburgischen Staatsoper, gaben am Samstag, 25. Februar 2023, ein Gedenkkonzert zu Ehren ihres Ende 2022 verstorbenen Chorgründers und -leiters Jürgen Luhn.
Dazu reisten ehemalige Spatzen aus der ganzen Welt an und sangen ein Best Of aus dem langjährigen Repertoire. Ja, manch ein Spatz flog aus Australien, den USA, England und den Niederlanden ein.
1975 gegründet, waren die Hamburger Alsterspatzen Jahrzehnte lang ein musikalischer Botschafter Hamburgs, Konzertreisen führten die Spatzen von Japan bis in die USA, und gewannen zahlreiche Wettbewerbe. Zu Ehren ihres Chorleiters kamen sie nun zum gemeinsamen Musizieren erstmals wieder zusammen. Sie probten nur ein Mal – auch das war Weltklasse.
Die Hamburger wissen es: Dieser Kinderchor war Anfang der 1990er-Jahre einer der besten – wohl der beste – Kinderchor der Welt. Und Jürgen Luhn, am 17. November 2022 verstorben, war der nimmermüde Motor des Kultklangkörpers. Er stellte 44 Jahre voll und ganz in den Dienst der Sangeskultur für hochbegabte Minderjährige. Die Hamburger Alsterspatzen (heute: Alsterspatzen) waren und sind ein Leistungsensemble.
Es ist eine musikalische Lawine, die Jürgen Luhn mit der Gründung und Leitung der Hamburger Alsterspatzen ins Rollen gebracht hat. Haben die Menschen in Leipzig den Thomanerchor, die Dresdener den Kreuzchor und die Bayern den Tölzer Knabenchor, kann die Hansestadt mit seinen Alsterpatzen punkten, die mit ihrem Leiter nicht nur mit der Hermann-Löns-Medaille, sondern von der Stadt Hamburg auch mit der Brahms-Medaille für ihr Wirken ausgezeichnet wurden. Stets gehörten weit über 100 Kinder diesem Leistungsensemble an, das nicht nur in den verschiedenen Produktionen der Staatsoper auf der Bühne stand und steht, sondern auch bei Konzerten in ganz Deutschland, bei Auftritten in Funk und Fernsehen sein Können zeigte und unzählige Tonträger aufnahm. Unvergessen ist sicher auch der Auftritt der Alsterspatzen beim 125. Geburtstag des HSV vor elf Jahren. Die Alsterspatzen gehören eben genauso zu Hamburg wie die Schiffe auf der Elbe.
Unzählige Weltkarrieren begannen bei den Hamburger Alsterspatzen, wo Jürgen Luhn bei den Kindern die Freude an der Musik, am Gesang weckte, und die Kinder zugleich auch die Fähigkeiten lernten, die für eine berufliche Künstlerlaufbahn notwendig sind. So gingen aus den Alsterspatzen zahlreiche Opernsänger:innen wie die Sopranistinnen Mojca Erdmann, Leonore Laabs und Mirka Wagner (Komische Oper Berlin), Sarah Ferede (Deutsche Oper am Rhein), Kristina Fehrs (Staatsoper Dresden), der Tenor Roberto Gionfriddo (Theater Freiburg) oder auch die Intendantin des Opernhauses in Seattle Christina Scheppelmann hervor. Musicalsänger:innen wie Nadine Schreier oder Lucius Wolter waren früher Alsterspatzen, ebenso wie die bekannten Regisseure Marco Storman und Dirk Schattner und der Komponist Kian Djalili – um nur einige zu nennen. Hinzu kommen Schauspieler:innen wie Henrike Fehrs oder die Filmregisseurin Cosima Lange.
Doch das musikalische Erbe, das Jürgen Luhn hinterlässt, ist noch viel größer, beginnt es doch bei den ehemaligen Spatzen, die heute am Bett ihrer Kinder sitzend ein Lied singen oder als Lehrerinnen bei ihren Schülern die Freude am Musizieren wecken. Das Luhnsche Saatkorn ist aber auch aufgegangen bei all denjenigen ehemaligen Spatzen, die heute in Vokalensembles, Kirchen- oder auch Oratorienchören singen oder selbst Chöre gegründet haben, wie beispielsweise die Sahnestückchen, den Kinderchor Cantemus oder das Vokalensemble Voice Libera in Velten.
Alle Stücke, die an diesem Abend dargeboten wurden, waren eine Wucht und erreichten Herz und Seele: von „An de Eck steiht ’n Jung mit’n Tüdelband“, „For the beauty of the earth“, „Hava Nagila“ oder der „Abendsegen“ aus der Oper „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck. Eine blondhaarige Frau mit toller Stimme sang in Reihe 1 fast alle alle 26 Stücke auswendig, Respekt! Beim achtstimmigen „Denn er hat seinen Engeln befohlen“ aus dem „Elias“ von Felix Mendelssohn Bartholdy zeigte sich indes, das für einige – sehr gute – Sänger die einmalige Probe doch etwas kurz gewesen war.
Der gebürtige Berliner Jürgen Luhn hat die Hamburger Hauptkirche St. Petri einmal als seine „Lieblingskirche“ bezeichnet. An diesem Samstagabend dirigierten und spielten am Flügel und an der Orgel in dem Sakralbau wunderbar drei ehemalige Assistenten Jürgen Luhns und der Hamburger Alsterspatzen: Doris Vetter, Manfred Johannsen und Clemens Bergemann. Den Abend moderierten locker, leicht und flockig: die Journalistin und Mitorganisatorin Ulrike Gawande und der Regisseur Dirk Schattner.
Für den wahren St.-Petri-Sound sorgte Thomas Dahl, der Kirchenmusikdirektor von St. Petri, an der großen Orgel mit zwei phantastischen Improvisationen.
Als ich nach Haus ging, dachte ich:
Was für ein erhabenes Konzert.
Was für ein wunderbarer Chor.
Welch unique Musikalität aller Beteiligten.
Was für eine tolle Gemeinschaft fürs Leben –
viele Spatzen hatten nach dem Schlusston Tränen in den Augen,
jede umarmte seine Nachbarin.
Ich wäre auch gern ein Spatz gewesen.
Andreas Schmidt, 26. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Mit dem Überschuss des Konzertes ehren die Hamburger Alsterspatzen Jürgen Luhn vor St. Michaelis (Michel) am Montag, 8. Mai 2023, um 10 Uhr mit einer Gedenktafel. Gäste sind herzlich willkommen.