Ladas Klassikwelt 103: „Jedes zivilisierte Volk spürt die Kraft von Richard Wagners Geist“

Ladas Klassikwelt 103: „Jedes zivilisierte Volk spürt die Kraft von Richard Wagners Geist“

von Jolanta Łada-Zielke

Diese Worte schrieb in seiner Biografie Richard Wagners der unseren Lesern bereits bekannte Musikschriftsteller, Musikkritiker und Komponist Ferdinand Pfohl (1862-1949). Der Verlag Ullstein & Co in Berlin veröffentlichte Pfohls Buch „Richard Wagner. Sein Leben und Schaffen“ im Jahre 1911 und in folgenden Jahren. Ich habe eins der Originalexemplare aus dem Jahr 1918, im stoffbezogenen Einband, von der Familie des Autors erhalten.

Der Inhalt besteht aus neun Kapiteln, deren Initialbuchstaben vergrößert und verziert sind, wie in alten Büchern. Die grafische Gestaltung dieser Publikation beschränkt sich auf einige Ornamente sowie auf Bilder. Ein wertvoller Gegenstand sind zwei Nachdrucke von Originaldokumenten: der Anfang des ersten Aufzuges der „Meistersinger von Nürnberg“ in der eigenhändigen Niederschrift Richard Wagners, den der Verleger Schott’s Söhne in Mainz zur Verfügung stellte, sowie ein Faksimile der ersten Seite des zweiten Akts der „Walküre“, die sich im Besitz des Königs Otto von Bayern befand.

Im Vorwort spielt der Autor auf ein Märchen vom Demant Berg an, über dem ein bestimmter Vogel alle hundert Jahre seinen Schnabel wetzt. „Und wenn einmal der Berg ganz hinweggewetzt wird, dann ist eine Minute der Ewigkeit vorbei“. Richard Wagner, so Pfohl, sei ein solcher Demant-Berg, an dem täglich verschiedene Vögel ihren Schnabel schärfen. Er bezeichnet das Werk des Komponisten als „unzerstörbar, echt und ewig“, dessen Kraft jedes zivilisierte Volk berührte.

Im weiteren Teil konzentriert sich der Autor bereits auf die Fakten zu Leben und Schöpfung Richard Wagners. Er beschreibt seine Werke in einer für die damalige Zeit charakteristischen poetischen Weise. Sein polnischer Kollege Zdzislaw Jachimecki formuliert ähnlich seine Urteile über den Komponisten, obwohl seine Arbeit 1922 erschien. Lange Sätze und sehr bildliche Beschreibungen könnten heutige Leser entmutigen, aber für Philologen und Musikwissenschaftler ist es ein wahrer geistiger und künstlerischer Genuss. So klingt Pfohls Definition der „unendlichen Melodie“, die nichts anderes sei „als eben die lebensvolle symphonische Orchestersprache, in der alle musikalischen Keime sich entwickeln, in der die Motive wachsen, sich ausbreiten und sich verbinden, oder feindselig sich schneiden, sich bekämpfen, wie Situation, Szene und dramatischer Vorgang es bedingen“. Bei den rein musikalischen Beschreibungen der Stücke haben wir jedoch mit einer eingehenden, wissenschaftlichen Analyse zu tun.

Bei der Besprechung von „Tristan und Isolde“ widmet Pfohl einen Abschnitt den Leitmotiven und ihrer Entwicklung von der italienischen Oper (Jacopo Peri) bis zu Wagner, der ihnen eine außerordentlich gesteigerte aktive Kraft gab und sie mit neuem Inhalt füllte. „Die Meistersinger“ sind hingegen für den Autor ein Werk, das aus dem „echten deutschen Geist“ entstanden ist, so wie der Kölner Dom, Bachs „Matthäuspassion“, Beethovens „Missa solemnis“ und Goethes „Faust“.

In diesem Buch findet man einige interessante Fakten. Als Richard Wagner beim Jour fixe im Engelklub in Dresden (1845) zum ersten Mal das Libretto des „Lohengrin“ vorlas, bewunderten es vor allem die dort anwesenden Maler, am wenigsten die Komponisten, die den Text für unmöglich zum Vertonen hielten. Die ersten Bayreuther Festspiele im Jahr 1876 zogen so viele Gäste an, dass die Stadt nicht genug Unterkünfte für alle hatte. Die Stadtverwaltung sah sich gezwungen, einen Teil von ihnen im Stadtgefängnis, und angeblich im Irrenhaus unterzubringen. Der Autor weist jedoch darauf hin, dass die letzte Information unbestätigt bleibt.

Pfohl beschreibt Wagner ebenfalls als einen hervorragenden Orchesterleiter, der aus dem Gedächtnis dirigierte, und als Sänger, der seine neuen Werke einem engen Freundeskreis vorstellte: „Seine Kapellmeisterstimme (war) erstaunlich in die Lage des Basses und des Tenors zwingend! – bemächtigte sich das Werk der Zuhörer mit starker Wirkung“.

Ferdinand Pfohl © Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e.V.

Über die ständigen finanziellen Probleme des Komponisten äußert sich Ferdinand Pfohl in einem wohlwollenden Ton, dass sie „in seinem bürgerlichen Leben den Basso continuo bildeten“. Zugleich betont er, dass Wagner die Bayreuther Festspiele ohne Gewinnabsicht ins Leben gerufen hat: „… niemals zog Wagner selbst, niemals zog später seine Familie aus dem Unternehmen auch nur den geringsten finanziellen Vorteil, und das Verhältnis seines Hauses zu den Festspielen wollte der Meister, trotz der schweren persönlichen Vermögensopfer, die er in der Nibelungenperiode brachte, für alle Zeiten auf eine ideale Grundlage gestellt wissen“.

Ich habe auch die polnischen Aspekte dieser Biografie des Komponisten beachtet. Pfohl verfügte über unzureichende Informationen über die „Polonia“-Ouvertüre, wahrscheinlich weil er keinen Zugang zu polnischen Quellen hatte. Wagner verwendete in diesem Stück einige Motive aus polnischen patriotischen Liedern, vor allem aus dem „Dritten-Mai-Lied“, das im Polonaise-Rhythmus, nicht in dem einer Mazurka steht, wie der Biograph schreibt. Er vergleicht die Polonia-Ouvertüre mit der Ouvertüre „Rule Britannia“, die Wagner in demselben Jahr 1836 in Königsberg komponierte.

Pfohl widmet nur einen Satz Maria Kalergis-Mouchanoff, der polnischen Mäzenin Wagners, die das durch seine Konzerte in Paris entstandene Defizit mit der Summe von zehntausend Franken deckte (1860). Diese Dame war eine wahre Freundin von Cosima und Richard Wagner sowie von Franz Liszt. Dank ihren Bemühungen kam es zur endgültigen Versöhnung des Paares mit Cosimas Vater.

In den letzten Zeilen fragt sich Ferdinand Pfohl, wer Richard Wagner war: ein Künstler, ein Deutscher oder ein Mensch, und kommt dann zu dem Schluss, dass er „das alles zusammen in höchster Vollendung“ repräsentierte. Pfohl beschließt seine Biografie des Komponisten mit einem Zitat aus  „Kunst und Religion“: „Nur wir kennen die Musik als  M u s i k ,  und durch sie vermögen wir alle Wiedergeburten und Neugeburten; dies aber nur, wenn wir sie heilighalten“.  Zur Zeit der Veröffentlichung dieses Buches – 1911 – klangen diese Worte motivierend. Die Ereignisse der nächsten dreißig Jahre zeigten, dass man diese und andere Botschaften Wagners falsch verstand und missbrauchte. Wenn man heute über ihn schreibt, kann man die Rolle, die die Nationalsozialisten seinem Werk zuschrieben, nicht übersehen. Aber die früheren, noch nicht durch diese Konnotation belasteten Studien über den Komponisten, wie diese von Ferdinand Pfohl, sind sicherlich eine Wiederentdeckung wert.

Jolanta Łada-Zielke, 27. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anläßlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

2 Gedanken zu „Ladas Klassikwelt 103: „Jedes zivilisierte Volk spürt die Kraft von Richard Wagners Geist““

  1. Vielen Dank Frau Lada-Zielke, für diese Bereicherung und Einordnung in der Wagner-Literatur. Leider kennen wir in Deutschland durch die jahrzehntelange Trennung den polnischen Standpunkt noch zu wenig, aber ich hoffe, das wird sich in Zukunft durch gute Zusammenarbeit ändern!

    Klaus Sallmann, Staatsoper Berlin

    1. Lieber Herr Sallmann,
      vielen herzlichen Dank für Ihre netten Zeilen.
      Ferdinand Pfohl war ein Deutscher, der in Elbogen (heute Loket) in Westböhmen geboren wurde und in Leipzig sowie in Hamburg lebte. Ich habe von ihm bereits in 2019 auf KB geschrieben, hätte aber die Information von seiner Herkunft auch zu diesem Text hinzufügen sollen.
      Was nämlich das Thema „Richard Wagner und Polen“ betrifft, ist es sehr breit und vielschichtig. Ich habe einen Vortrag dazu für den Wagner-Verband in Hamburg gehalten. Das kann ich auch in Berlin gerne machen. Herzliche Grüße, Jolanta Lada-Zielke

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