Foto: Nurejew (c) Allan Warren
„Russen, die ich liebe!“
von Harald Nicolas Stazol
Wir erinnern uns, dies ist der Versuch eines Plädoyers für eine supranationale Entkoppelung der Musik von Politik und Propaganda, eine Philippica gegen das Absetzen von Eugen Onegin, das Zerreißen von Ballettkompagnien, das sinnlose Kaputtholzen der musikalischen Hochkultur.
Ich vertrete, hohes Gericht, die Angeklagten, meine Komponisten, meine geliebten Russen!
Ich rufe also den ersten Zeugen auf: Dmitri Schostakowitsch, und präsentiere Beweismittel A, sein 2. Klavierkonzert.
Es gehört, Euer Ehren, unzweifelhaft zum Schönsten, das die russische Schule je hervorgebracht hat, ein echtes Traditionswerk, ein tiefrussisches Werk, – wie ja auch die „Leningrader“, die Siebte, wir erinnern uns, unter Beschuss der DEUTSCHEN Wehrmacht entstanden in St. Petersburg.
Während die Deutschen mit Artillerie bombardierten, fuhr Schostakowitsch mit dem Fahrrad zu den Proben. Also erzählen Sie mir nichts von Nationalitäten in der hochheiligen Musik! Ich ziehe die letzte Bemerkung zurück, Euer Ehren.
In fast jeder Biographie von Glinka, über Glasunov, Mussorgsky, bis zu Rimski-Korsakow und Prokofjew, findet sich das Moskauer Konservatorium oder das an der Neva, und alle, wirklich alle, waren Schüler des einen oder des anderen, und dann auch Leiter der Konservatorien. Tschaikowski wird, eigentlich ja Ministerialbeamter, dort geradezu entdeckt! Ein hocheffizientes Bildungssystem, eben zaristisch, – Aber auch das spielt in dieser Betrachtung keine Rolle.
Ach, das sei elitär und nur den höheren Kreisen zugänglich gewesen?
Beweisstück B, Hohes Gericht:
Alle fünf Jahre brachten die Ballettmeister des Marynski im Frühjahr zu einer langen Reise auf. Sie besuchten im riesigen Reich von den Karpaten bis zum Ural und bis zu den Provinzen Sibiriens die kleinen Dörfer, um bei den Sommerfesten die besten Volkstänzer und -Tänzerinnen auszusuchen. War Annahme zu Talent, ging man zu den Eltern und brachte ihnen nahe, welche große Chance sich ihnen nun hier bot:
Man würde den 14-jährigen Alexey mit in die große Stadt nehmen, an die Kaiserliche Tanzschule (ein Esser weniger!) – er würde dort lesen und schreiben lernen, ein warmes Zimmer, drei Mahlzeiten am Tag haben, und würde Tanzunterricht bekommen. Sie selbst bekämen auch 10 Goldrubel im Jahr für ihr weiteres Auskommen, hier sei schon mal ein Lederbeutelchen mit 5 Goldrubel. Und dann packt Alexey seinen Rucksack zusammen, küsst Mutter und Vater dreimal Wange auf Wange, die Mutter weint, „Gott segne Dich mein Sohn!“, der Vater „Mach mir keine Schande, mein Sohn“ – und sie sehen ihn nie wieder.
So etwa stelle ich es mir vor. Doch es wird der Wahrheit nicht allzu ferne sein.
So in etwa wurden Nurejew entdeckt, Baryschnikov und die Pavlova, und letztlich Vladimir Malakhov, denn auch in der Sowjetunion behielt man das „Prinzip des Zaren“, wie ich es nenne, erhalten.
Alles Russisch, alles Russen.
Beweisstück C aber, die „Ballets Russes“ aber, Hohes Gericht, werden uns etwas später noch weiter erfreuen.
Harald Nicolas Stazol, 8. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Haralds Passionen III lesen Sie morgen, Samstag, 9. Juli 2022.