Symbolbild: © whitesession auf Pixabay
„Hier, vor der Behörde, waren wir endlich alle einmal wirklich gleich. Auch der Geschäftsmann, der in edlem Tuch gekleidet aus dem Taxi stieg, musste sich in unsere basisdemokratische Reihe stellen. Da nützte ihm sein aufgeregtes Telefonieren und Gestikulieren nichts. Nein, hier ist niemand wichtiger als der andere. Ein Gefühl des tiefen Vertrauens in unseren Staat machte sich in mir breit.“
von Barbara Hauter
Eigentlich bin ich ja dagegen, immer und in jeder Lebenssituation Musik zu hören. Mit dicken Kopfhörern bewehrt durch die Straßen zu stapfen, ist nicht meins. Die jungen Leute, die mir damit joggend und radfahrend im Englischen Garten begegnen, erscheinen mir aus der Welt gebeamt. Wahrscheinlich liegt genau darin der Sinn der dudelnden Ohrwärmer. Aber nun ist es mir doch tatsächlich passiert, dass ich mich nach so einem Ding gesehnt habe. Ich war auf Besuch in einem völlig neuen Habitat und ich fühlte mich so fremd, dass ich mich gerne mit heimatlichen Klängen getröstet hätte. Aber langsam und von vorn.
Am Dienstagabend zehn nach acht flackerte mein Handy auf. Eine SMS von höchster Stelle. Ich wäre auserwählt, mich Donnerstag um 14.15 Uhr im Impfzentrum zum erlösenden Piks einzufinden, wenn ich denn innert 10 Minuten zusagen würde. Dem Algorithmus sei Dank für meine Erwählung, aber AstraZeneca wollen wohl so viele nicht, da bleibt was für die Jüngeren übrig. Natürlich klickte ich sofort auf „bestätigt“ und fand mich am übernächsten Tag Punkt 14 Uhr im Münchner Messezentrum Ost ein.
Vorbildlich war der Weg beschildert und gekonnt wurde ich auf den Parkplatz eingewinkt. Perfekte deutsche Organisation eben. Doch damit trat ich ein in eine Welt voller bürokratischer Wunder. Ich hatte zur Vorbereitung auf den großen Moment brav einen Online-Fragebogen ausgefüllt und hütete ihn und den zugehörigen QR-Code eifersüchtig auf meinem Handy. Sehr modern erschien mir das und ich empfand ein bisschen Stolz auf die digitale Meisterschaft meines Heimatlandes. Doch bevor ich irgendeinen QR-Code zum Abscannen vorzeigen durfte, standen noch schwere Prüfungen an.
Wie sich herausstellte waren gefühlt etwa 2000 Impfbegeisterte auf 14.15 Uhr einbestellt, wie eine spontane Kurz-Umfrage an der ersten Menschentraube vor den Messehallen ergab. Etwas verwirrt reihte ich mich ein. So viele Menschen gleichzeitig auf einem Haufen hatte ich seit über einem Jahr außer im Fernsehen nicht mehr gesehen, sie standen dicht an dicht und redeten wie wild durcheinander. Eine Sehnsucht nach der gewohnten Ruhe und Einsamkeit machte sich in mir breit. Ich hätte mir die Kopfhörer der besten Lebensgefährtin von allen mitnehmen sollen. Das hier waren Ort und Zeit zum Wegbeamen. Ein bisschen beruhigende Barockmusik wäre passend gewesen. Sie soll ja auch stärkend auf das vegetative Nervensystem und vor allem auf das Immunsystem wirken. Bei so viel ungewohnter Nähe wäre das zumindest eine gute Schutzmaßnahme gewesen.
Diese erste Menschenschlange führte im geordneten Zickzack zu einem Zelt, durch das wir geleitet von professionellen Absperrbändern weiter im Zickzack nach vorne transportiert wurden. Der Weg dahindurch maß eine Stunde, die ersten zwei älteren Damen kippten um. Auch hier bewies Deutschland wieder seine organisatorische Meisterschaft, innerhalb von weniger als drei Minuten standen Rettungsteams den Ohnmächtigen zur Seite und transportierten sie geschickt ab. Ein paar einfache Stühle zum Ausruhen hätten vielleicht im Vorfeld die Zusammenbrüche verhindert, aber so war es definitiv eindrucksvoller.
Und noch etwas bewunderte ich: Hier, vor der Behörde, waren wir endlich alle einmal wirklich gleich. Auch der Geschäftsmann, der in edlem Tuch gekleidet aus dem Taxi stieg, musste sich in unsere basisdemokratische Reihe stellen. Da nützte ihm sein aufgeregtes Telefonieren und Gestikulieren nichts. Nein, hier ist niemand wichtiger als der andere. Ein Gefühl des tiefen Vertrauens in unseren Staat machte sich in mir breit.
Gegen 15.15 hatte ich das Gebäude erreicht. Beim Eintreten wurde uns Fieber gemessen, 36,6 verkündete der orange-bewestete Helfer. Ich war stolz auf so viel Gesundheit. Wieder ging es im Zickzack zur nächsten Station: der Ausweiskontrolle. Ich schaute mich verstohlen um, ob hier auch irgendwelche Rollkoffer aufgegeben werden konnten, zu sehr erinnerte mich die Abfertigung an das Einchecken am Flughafen.
Tatsächlich ging es dann, nur 20 Minuten später, an den Eincheck-Counter, sie hießen sogar so. Schalter 17 war meiner. Voller Vorfreude zückte ich mein Handy in der Erwartung, nun gescannt zu werden. Aber falsch gedacht. Der freundliche Mitarbeiter kontrollierte nochmals meinen Ausweis, fragte mich die Fragen aus dem bereits ausgefüllten Online-Fragebogen ab, hackte alles säuberlich in den Computer, druckte viele Blätter aus und händigte mir einen ganzen Stoß davon zum Durchlesen und viermaligen Unterschreiben aus. Traurig blickte ich auf meinen ungenutzten QR-Code und stellte mich an den Bistrotisch, um den Fragebogen ein drittes Mal auszufüllen und die vier Unterschriften zu leisten. Dann trottete ich zurück in meine Schlange.
Inzwischen kannte ich meine Vor- und Hintermenschen schon ganz gut: eine Mitarbeiterin aus einer Kinderarztpraxis, ein systemrelevanter Geschäftsmann – er handelt mit Schnelltests –, ein älteres Ehepaar, das das Konzept „Abstandhalten“ nicht verstanden hatte. Aber wir trennten uns jetzt. Je nach vorausgewähltem Impfstoff gab es nun drei Schlangen, Moderna, BionTech und AstraZeneca. Alle Jüngeren standen für den letztgenannten an.
Dann ging es plötzlich ganz schnell. Wir wurden paarweise zu den Impfboxen eingewiesen. Ich traf auf einen sehr glücklichen Arzt, der mir in den drei Minuten unseres Kontaktes die Papiere abnahm, erzählte, dass er eigentlich im Ruhestand sei und sich nun endlich wieder nützlich fühlen dürfe, und mir AstraZeneca in den linken Arm jagte. Ich hatte gerade noch Zeit, meine Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, dann stand ich wieder in der Schlange. Diesmal reihten wir uns für den erlösenden Stempel im Impfbuch ein. Nur zweieinhalb Stunden nach Ankunft im Impfzentrum saß ich zufrieden im sogenannten „Abklingbecken“, dem Beobachtungsraum für frisch Geimpfte, und wartete – zum Glück vergeblich – auf eine Impfreaktion.
Für zukünftige Generationen hinterlassen wir genügend Stoff für die künstlerisch-musikalisch-dramatische Auseinandersetzung. Wird es eine Impfzentrum-Oper geben? Ich tippe eher auf ein Musical, mit tanzenden Spritzen und von der Decke segelnden Fragebögen. Meinen QR-Code kann ich jetzt übrigens spenden. Er ist noch ganz frisch und ungenutzt.
PS: Ich hatte so gut wie keine Nebenwirkungen, ein bisschen hat der linke Arm geschmerzt. Dank des Chips des britisch-schwedischen Impfstoff-Lieferanten hat sich mein Englisch deutlich verbessert. Schade eigentlich. Wenn es Sputnik gewesen wäre, spräche ich nun fließend Russisch.
Barbara Hauter, 10. März 2021, für
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Barbara Hauter, Jahrgang 1964, wohnhaft in München, ist eine Vollblut-Journalistin. Getreu ihrem Motto „Ein Journalist kann über alles schreiben“ schloss sie drei Magisterstudiengänge ab. Sie verdiente sich ihre Sporen in der Tagespresse, Funk und Fernsehen, schrieb in Magazinen über Tauchen, Fotografie oder Medizinthemen. Ihre Tätigkeit als Chefredakteurin der Zeitschrift „Das Tier“ stellte einen vorläufigen Höhepunkt dar. Und doch war alles nur das Vorspiel für ihr Engagement als Autorin beim Blog „Klassik begeistert“. Die spätberufene Kontrabassistin sieht sich in ihren Rezensionen des Musiktheaters und Balletts als Stimme des Volkes. In der jeden zweiten Donnerstag erscheinenden Kolumne „Hauters Hauspost“ erfreut sie die Leserschaft gerne mit Episoden über ihre ambivalente Liebe zur Musik.
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